Tz. 9
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Prozesshandlungen sind der Auslegung (entsprechend § 133 BGB) zugänglich (z. B. BFH v. 21.05.2014, III B 3/14, BFH/NV 2014, 1389). Die für die Auslegung bürgerlich- rechtlicher Willenserklärungen entwickelten Grundsätze sind dabei anzuwenden (z. B. BFH v. 31.08.1999, VIII B 29/99, BFH/NV 2000, 442; BFH v. 15.05.2002, I B 8/02, I S 13/01, BFH/NV 2002, 1317; BFH v. 17.08.2005, IX R 35/04, HFR 2006, 575). Auf einen verborgen gebliebenen inneren Willen des Beteiligten kann es nicht ankommen; abzustellen ist vielmehr darauf, wie die Erklärung im Augenblick ihrer Abgabe unter Berücksichtigung der dem Erklärungsempfänger bekannten oder erkennbaren Umständen verstanden werden muss. Die Auslegung obliegt dem Gericht, das über die Prozesshandlung zu befinden hat; an die Auslegung durch das FG ist der BFH als Revisions- bzw. Beschwerdegericht nicht gebunden (z. B. BGH v. 06.03.1985, VIII ZR 123/84, NJW 1985, 2335; BFH v. 28.07.1987, VII R 14/84, BFH/NV 1988, 241; BFH v. 23. April 2003, IX R 28/00, BFH/NV 2003, 1140). Bei der Auslegung einer Prozesshandlung ist nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks der Beteiligtenerklärung zu haften, es ist vielmehr der in der Erklärung verkörperte Wille anhand der erkennbaren Umstände zu ermitteln, das wahre Prozessziel zu erforschen (BFH v. 09.04.1987, IV R 213/84, BFH/NV 1988, 158; BFH v. 03.04.2000, VII B 254/99, juris). Dies erfordert im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) eine Auslegung, die dem wirklichen Rechtsschutzbegehren sachgerecht Rechnung trägt (BFH v. 28.10.1992, VIII B 85/92, BFH/NV 1994, 332). Daher kommt es nicht entscheidend auf die Wortwahl und die Bezeichnung an, sondern auf den gesamten Inhalt der Willenserklärung (z. B. BFH v. 07.11.2007, I B 104/07, BFH/NV 2008, 799). Dabei sind sämtliche – also auch außerhalb der Erklärung liegende – dem FG erkennbare Umstände tatsächlicher und rechtlicher Art zu berücksichtigen; hierzu hat das FG auch auf die Steuerakten zurückzugreifen (z. B. BFH v. 29.07.2009, VI B 44/09, BFH/NV 2009, 1822). Demnach ist grds. davon auszugehen, dass der Rechtsbehelfsführer den Rechtsbehelf einlegen wollte, der seinen Belangen entspricht und zu dem von ihm angestrebten Erfolg führen kann (BFH v. 17.08.2005, IX R 35/04, HFR 2006, 575 m. w. N.). Jedoch darf die Auslegung nicht zur Annahme eines Erklärungsinhalts führen, für den sich in der Erklärung selbst keine Anhaltspunkte finden (BFH v. 10.05.1989, II R 196/85, BStBl II 1989, 822; BFH v. 13.11.1998, VII B 236/98, BFH/NV 1999, 591). In der Auslegung prozessualer Willenserklärungen, die im erstinstanzlichen Klageverfahren abgegeben worden sind, ist das Revisionsgericht frei; es ist insoweit nicht an die Auslegung durch die Vorinstanz gebunden (BFH v. 20.09.1996, VI R 43/93, BFH/NV 1997, 249; BFH v. 19.10.2016, II R 44/12, BStBl II 2017, 797). Lässt sich ein klarer und eindeutiger Inhalt der Erklärung nicht durch Auslegung ermitteln, hat der Vorsitzende gem. § 76 Abs. 2 FGO – etwa durch Rückfrage – darauf hinzuwirken, dass der unklare Antrag erläutert bzw. berichtigt wird (BFH v. 21.05.2014, III B 3/14, BFH/NV 2014, 1389).