Tz. 55

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

§ 174 Abs. 4 AO ist gegenüber § 174 Abs. 1 bis 3 AO eine eigenständige Änderungsnorm; sie geht über die Regelungen der § 174 Abs. 1 bis 3 AO hinaus und ist nicht auf die Fälle alternativer Erfassung eines bestimmten Sachverhalts beschränkt (BFH v. 02.05.2001, VIII R 44/00, BStBl II 2001, 562; FG Münster v. 08.04.2014, 10 K 3960/12 E, EFG 2014, 1162; von Wedelstädt in Gosch, § 174 AO Rz. 91 m. w. N.). Die Vorschrift erfasst den Fall, dass auf Veranlassung des Stpfl. eine irrige Beurteilung eines bestimmten Sachverhaltes richtiggestellt wird, was dazu führt, dass nach der Änderung dieser Sachverhalt in einem anderen Steuerbescheid nicht mehr richtig erfasst ist. Der entstandene negative Widerstreit ist auf die Initiative des Stpfl. zurückzuführen. Der Stpfl. soll nicht nur in den Genuss der Änderung des Bescheides zu seinen Gunsten kommen, sondern er soll konsequenterweise auch die daraus resultierenden ungünstigen Folgerungen hinnehmen müssen. Insoweit tritt der Vertrauensschutz hinter der materiellen Rechtmäßigkeit zurück (BFH v. 11.05.2010, IX R 25/09, BStBl II 2010, 953). Gerechtfertigt ist diese Verletzung des Vertrauensschutzes dadurch, dass der Stpfl. sich treuwidrig verhalten würde, wenn er sich nach der Änderung zu seinen Gunsten auf die Bestandskraft des nun fehlerhaften anderen Bescheid berufen würde (von Wedelstädt in Gosch, § 174 AO Rz. 91; zum Grundsatz von Treu und Glauben s. Vor §§ 204–207 AO Rz. 2). Die Beweislast dafür, dass die Voraussetzungen des § 174 Abs. 4 AO vorliegen, trägt das FA. § 174 Abs. 4 AO erlaubt – wie grds. alle Korrekturnormen (abgesehen von § 164 Abs. 2 AO) – nur eine punktuelle Durchbrechung der Bestandskraft (s. Vor §§ 172–177 AO Rz. 22) und lässt keine uneingeschränkte Fehlerkorrektur zu. Daher ist die Norm nicht – allein im Interesse der materiellen Gerechtigkeit – analog auf andere Fälle anzuwenden (BFH v. 03.04.2007, IX B 168/06, BFH/NV 2007, 1267; Loose in Tipke/Kruse, § 174 AO Rz. 39).

I. Tatbestand

1. Irrige Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts in einem Steuerbescheid

 

Tz. 56

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Ein Steuerbescheid (s. Rz. 4) muss aufgrund einer irrigen Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts (s. Rz. 8 f.) ergangen sein. Irrige Beurteilung bedeutet, dass sich die Beurteilung eines bestimmten Sachverhaltes nachträglich als unrichtig erweist (z. B. BFH v. 12.02.2015, VI R 38/13, BStBl II 2017, 31; BFH v. 04.02.2016, III R 12/14, BStBl II 2016, 818). Die von der Finanzbehörde gezogenen steuerrechtlichen Folgerungen müssen sich im Nachhinein als unzutreffend erweisen. Eine lediglich vom FA angenommene, tatsächlich aber nicht bestehende Unrichtigkeit rechtfertigt die Anwendung des § 174 Abs. 4 AO nicht (von Wedelstädt in Gosch, § 174 AO Rz. 95). Auf rechtmäßige Bescheide ist § 174 Abs. 4 AO auch nicht analog anwendbar (FG Ddorf v. 17.03.1998, 9 K 1307/95, EFG 1998, 1308). Der Irrtum des FA kann sich auf das Steuersubjekt (Stpfl., Inhaltsadressaten), das Steuerobjekt oder den Veranlagungszeitraum beziehen (BFH v. 26.10.1994, II R 84/91, BFH/NV 1995, 476). Der für die rechtsirrige Beurteilung ursächliche Fehler kann rechtlicher oder tatsächlicher Natur sein (z. B. BFH v. 24.04.2013, II R 53/10, BStBl II 2013, 755; BFH v. 04.02.2016, III R 12/14, BStBl II 2016, 818). Auch das Übersehen einer möglichen Rechtsfolge erlaubt die Änderung nach § 174 Abs. 4 AO (BFH v. 08.04.1992, X R 213/87, BFH/NV 1993, 406). Die Änderung ist nicht ausgeschlossen, weil das FA vorsätzlich fehlerhaft gehandelt hat (BFH v. 10.05.2012, IV R 34/09, BStBl II 2013, 471 m. w. N.; BFH v. 25.10.2016, X R 31/14, BStBl II 2017, 287; von Wedelstädt in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 1215; a. A. von Groll in HHSp, § 174 AO Rz. 236 m. w. N.; Frotscher in Schwarz/Pahlke, § 174 AO Rz 171; Koenig in Koenig, § 174 AO Rz 60). Eine Einschränkung ergibt sich in diesen Fällen aber aus dem Grundsatz von Treu und Glauben (BFH v. 25.10.2016, X R 31/14, BStBl II 2017, 287; von Wedelstädt in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 1215). Die Korrekturmöglichkeit nach § 174 Abs. 4 AO ist dagegen nicht eröffnet, wenn der Irrtum nicht den Sachverhalt, sondern nur die Geltendmachung des Steueranspruchs, bspw. durch Verwechslung der Bekanntgabeadresse, betrifft. Unerheblich ist, ob die irrige Beurteilung durch den Stpfl. veranlasst wurde.

 

Tz. 57

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Irrt das FA darüber, welchen Besteuerungszeitraum ein bestimmter Sachverhalt betrifft, und wird ein solcher Irrtum später aufgedeckt und zugunsten des Stpfl. korrigiert, so steht die Festsetzungsverjährung der Änderung des Bescheids dann nicht entgegen, wenn dieser im Zeitpunkt des Erlasses des später geänderten oder aufgehobenen Steuerbescheids noch hätte korrigiert werden können (BFH v. 29.06.2005, X R 38/04, BFH/NV 2005, 1751).

 

Tz. 58

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Die irrige Beurteilung muss sich in einem wirksamen, also nicht nichtigen Steuerbescheid (§§ 125, 124 Abs. 3 AO) niedergeschlagen haben (BFH v. 27.02.1997, IV R 38/96, BFH/NV 1997, 388). § 174 Abs. 4 AO verlangt im Gegensatz zu § 174 Abs. 1 bis ...

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