Karl Blesinger, Dr. Andreas Viertelhausen
Tz. 31
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Ergibt die rechtliche Würdigung eines Sachverhalts, z. B. einer Vertragsgestaltung oder eines einseitigen Rechtsgeschäfts, dass er zur Umgehung einer Steuer angelegt ist, so hat das die folgenden Konsequenzen:
I. Feststellung der angemessenen Gestaltung
Tz. 32
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Es muss diejenige Gestaltung festgestelltwerden, die nach Grund und/oder Höhe den wirtschaftlichen Vorgängen, Umständen und Verhältnissen angemessen ist. Diese Gestaltung ist der Besteuerung im Wege der Tatsachenfiktion zugrunde zu legen (BR-Drs 544/07, 106). Die hier zu lösende Aufgabe bedeutet die Ermittlung und Feststellung tatsächlich nicht gegebener Besteuerungsgrundlagen. Diese Fiktion führt zu einer Ausnahme vom Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung (s. § 38 AO), denn die gewählte zivilrechtliche Gestaltung bleibt als solche bestehen, der Steuerpflichtige kann sich nur nicht mit steuerlichen Folgen auf sie berufen (BFH v. 06.03.1996, II R 38/93, BStBl II 1996, 377). Die zu treffenden Annahmen müssen sich auf das notwendige Mindestmaß beschränken. An den gegebenen (vorgefundenen) Sachverhalt ist so weit wie möglich anzuknüpfen. Dies kann zur Folge haben, dass eine Vertragsgestaltung (z. B. eine Betriebsaufspaltung), nicht insgesamt zu verwerfen ist, sondern nur eine Korrektur der den Umständen nach unangemessenen Pachtzinsregelung stattzufinden hat (BFH v. 08.11.1960, I 131/59 S, BStBl III 1960, 513) oder dass sich Beanstandung auf Korrekturen des Gewinnverteilungsschlüssels beschränken, wenn die allgemeinen Voraussetzungen für die Anerkennung eines Gesellschaftsverhältnisses mit Ehegatten oder Kindern gegeben sind. Trifft aber der Umgehungscharakter das gesamte Geschäft, sodass es auch nicht in Teilen akzeptiert werden kann, muss die Unterstellung eines den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen Sachverhalts entsprechend weiter gehen. So kann sich im Fall eines Arbeitsvertrages mit der Ehefrau, der in entscheidender Hinsicht überhaupt nicht durchgeführt worden ist, die Beanstandung nicht auf die Höhe der Vergütung beschränken. Hier kommt nur die völlige Verwerfung mit der Folge in Betracht, dass die auf die Ehefrau verlagerten Einkommensteile dem Ehemann uneingeschränkt zuzurechnen sind.
II. Beseitigung eines Widerstreits
Tz. 33
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Im Zusammenhang mit der Berücksichtigung der angemessenen Gestaltung bedarf es gegebenenfalls der Aufhebung derjenigen Steuerfestsetzungen, die der Umgehungstatbestand ausgelöst hat. Das Ziel der Vorschriften über die Steuerumgehung besteht darin, im Ergebnis nicht die Umgehungsteuer, sondern die umgangene Steuer zu erheben. Dem würde es widersprechen, es daneben bei einer etwa bereits festgesetzten Umgehungsteuer zu belassen.
Tz. 34
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Der Besteuerung wird die den wirtschaftlichen Vorgängen entsprechend "angemessene" Gestaltung zugrunde gelegt. Das hat zur Folge, dass eben die Steuer erhoben wird, welche die Beteiligten vermeiden oder vermindern wollten. Eine doppelte Besteuerung, nämlich die Erhebung sowohl der umgangenen Steuer wie der Umgehungsteuer, wäre eine Art von Strafsanktion, die nicht im Sinne des Gesetzgebers liegt. In Fällen, in denen Steuern doppelt festgesetzt werden, weil bei Anwendung des § 42 AO bereits Steuern ohne Berücksichtigung dieser Vorschrift festgesetzt worden sind, kann die widerstreitende Steuerfestsetzung nach § 174 AO beseitigt werden. Hiernach ist, falls ein bestimmter Sachverhalt in mehreren Steuerbescheiden zuungunsten eines oder mehrerer Pflichtiger berücksichtigt worden ist, obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen, der fehlerhafte Steuerbescheid auf Antrag aufzuheben oder zu ändern. Verhältnismäßig einfach lassen sich auf diesem Wege die Fälle lösen, in denen der unter dem Gesichtspunkt der Steuerumgehung verworfene Sachverhalt und der den wirtschaftlichen Vorgängen angemessene Sachverhalt nur von einer Steuerart betroffen werden, sodass es nur um den Umfang der letzten Endes zu entrichtenden Steuer geht. Schwieriger liegt die Sache, wenn eine Rechtsgestaltung mehrere, strukturell verschiedene Steuern auslöst. Wird z. B. ein Grundstückskaufvertrag im Bereich der Ertragsbesteuerung nicht anerkannt, weil es sich in Wirklichkeit um ein Pachtverhältnis handelt, so führt dies nicht zur steuerlichen Unwirksamkeit des Vertrages auch für die Grunderwerbsteuer (BFH v. 30.11.1955, II 35/54 U, BStBl III 1956, 28). Der Fall betraf den Erwerb eines Grundstücks mit aufstehender Schlackenhalde, bezüglich deren Abbaues ein Pachtvertrag vorausgegangen war. Streitig war die von den Beteiligten vereinbarte Anrechnung eines zweijährigen Pachtzinses auf den Kaufpreis. Für die Körperschaftsteuer wurde die Einbeziehung in den Kaufpreis verneint, obwohl sie für die Grunderwerbsteuer erfolgt war. Der BFH hat die unterschiedlichen Strukturen der beiden Steuern hervorgehoben (Körperschaftsteuer: wirtschaftliche Tatbestände; Grunderwerbsteuer: bürgerlich-rechtliche Gestaltung) und die geforderte Anrechnung der entrichteten Grunderwerbsteu...