Tz. 53
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
§ 131 Abs. 2 RAO gestattete die Aufstellung von Richtlinien für Erlassmaßnahmen in Bezug auf bestimmte Gruppen von gleichgelagerten Fällen. Eine entsprechende Regelung sieht § 227 AO zwar – entgegen dem ursprünglichen Gesetzentwurf – nicht mehr vor, gleichwohl sind derartige Erlassrichtlinien weiterhin zulässig (von Groll in HHSp, § 227 AO Rz. 202). Unter dem Gesichtspunkt der Selbstbindung der Verwaltung und damit der Beachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) sind diese Verwaltungsvorschriften auch bei der gerichtlichen Überprüfung von Bedeutung (BFH v. 14.07.2010, X R 34/08, BStBl II 2010, 916; BFH GrS v. 28.11.2016, GrS 1/15, BStBl II 2017, 393).
Tz. 54
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Anforderungen an den Erlass aufgrund einer Erlassrichtlinie dürfen indes keine anderen sein als bei einer Einzelfallentscheidung. In beiden Fällen ist erforderlich, dass die Einziehung "nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre" (BFH v. 09.07.1970, IV R 34/69, BStBl II 1970, 696). Der Grund für die Billigkeitsmaßnahme muss in der besonderen Lage des Einzelfalls liegen, die durch das auf eine abstrakte Formulierung angewiesene Gesetz nicht berücksichtigt werden kann. Solche auf eine Mehrheit von einzelnen Fällen sich erstreckende Billigkeitsmaßnahmen können z. B. durch Unwetter, Hochwasser oder ähnliche Katastrophen veranlasst sein. Die für eine Regelung durch Richtlinien erforderliche Unbilligkeit braucht nicht notwendigerweise darin zu liegen, dass sich der Stpfl. in ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnissen befindet. Es genügt, dass eine sachliche Unbilligkeit vorliegt, die es für alle von einem gewissen Sachverhalt Betroffenen (z. B. Hochwassergeschädigten) unbillig erscheinen lässt, Steuern von ihnen einzuziehen (BFH v. 09.07.1970, IV R 34/69, BStBl II 1970, 696).
Tz. 55
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Als Beispielsfälle für Erlassrichtlinien seien aufgeführt: die koordinierten Ländererlasse über steuerliche Vergünstigungen von Aufwendungen zur Erhaltung schutzwürdiger Kulturwerte (BStBl I 1973, 2); Erlass des BMF v. 19.12.1969 betr. Billigkeitsmaßnahmen bei der Aufhebung des Absicherungsgesetzes (BStBl I 1970, 163); Ziffer 5 des AEAO zu § 240 betr. Erlass von Säumniszuschlägen; Erlassrichtlinien nach Katastrophenfällen wie Überschwemmungen oder Orkanschäden s. Nachweise bei von Groll in HHSp, § 227 AO in Fn. 4 zu Rz. 202.
Tz. 56
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Wachsender Beliebtheit erfreuen sich auch Übergangsregelungen zur Anpassung der Verwaltungspraxis an geänderte, verschärfte Rspr. des BFH. Allerdings stehen derartige Übergangsregelungen nicht im Belieben der Finanzverwaltung, sondern müssen jeweils durch § 227 AO als Rechtsgrundlage gedeckt sein (BFH v. 01.10.2003, X B 75/02, BFH/NV 2004, 44). Mehr oder wenig deutlich hat der BFH in einigen Entscheidungen auf etwaige Billigkeitsmaßnahmen hingewiesen (s. die Auflistung bei von Groll in HHSp, § 227 AO Rz. 204).
Tz. 57
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Tatsache, dass ein bestimmter – besonders gelagerter – Sachverhalt nicht von einer Erlassrichtlinie erfasst wird, bedeutet indes nicht, dass ein Erlass nicht möglich ist. Über den Wortlaut einer Richtlinie hinaus bleibt im Einzelfall ein Erlass am Maßstab von § 227 AO immer möglich.