Tz. 19

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Allgemeine Grenzen des Ermessens ergeben sich aus den Grundrechten (Maurer, § 7 Rz. 23), insbes. aus Art. 3 Abs. 1 GG (s. Rz. 15) und aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG), aus dem sich u. a. die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sowie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Übermaßverbot) ableiten (z. B. BVerfG v. 17.06.2004, 2 BvR 383/03, BVerfGE 111, 54; Jarass in Jarass/Pieroth, Art. 20 GG Rz. 80 m. w. N.).

1. Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG)

 

Tz. 20

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet es, dass die Finanzbehörde eine einheitlich geübte Ermessenspraxis beibehält und Abweichungen hiervon nur bei Vorliegen eines zureichenden sachlichen Grundes, also eines atypischen Sachverhalts vornimmt (vgl. Drüen in Tipke/Kruse, § 5 AO Rz. 50). Um eine einheitliche Verwaltungspraxis sicherzustellen, können ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften erlassen werden. Diese müssen die Grenzen einhalten, die das GG und die Gesetze der Ausübung des Ermessens setzen (BFH v. 23.01.2013, X R 32/08, BFH/NV 2013, 997 m. w. N.). Unter diesen Voraussetzungen erhalten diese Ermessensrichtlinien unter dem Gesichtspunkt der Selbstbindung der Verwaltung und damit der Beachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) eine Außenwirkung im Verhältnis zum Stpfl. (z. B. BFH v. 05.09.2013, XI R 4/10, BStBl II 2014, 95; BFH v. 25.02.2014, V B 75/13, BFH/NV 2014, 914: keine Selbstbindung bei norminterpretierenden Verwaltungsrichtlinien). Daher hat ein Stpfl., sofern er keinen atypischen Sachverhalt verwirklicht, grds. einen Anspruch auf eine den Ermessensrichtlinien entsprechende Entscheidung. Allerdings besteht kein Anspruch auf Fortsetzung einer gesetzwidrigen Verwaltungspraxis (z. B. BFH v. 03.02.2005, I B 152/04, BFH/NV 2005, 1214; BFH v. 19.03.2009, V R 48/07, BStBl II 2010, 92; Drüen in Tipke/Kruse, § 5 AO Rz. 51 m. w. N.; zum Vorstehenden s. § 4 AO Rz. 25 ff.)

2. Rechtssicherheit und Vertrauensschutz

 

Tz. 21

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Die Grundsätze der Rechtssicherheit (z. B. BVerfG v. 26.03.2014, 1 BvR 3185/09, NJW 2014, 1874) und des Vertrauensschutzes (z. B. BVerfG v. 20.02.2002, 1 BvL 19/97, 1 BvL 20/97, 1 BvL 21/97, 1 BvL 11/98, BVerfGE 105, 48) leiten sich aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) ab und haben daher Verfassungsrang. Sie sind auch bei der Ausübung behördlichen Ermessens zu beachten und verlangen eine gewisse Rechtsbeständigkeit einer Verwaltungspraxis (vgl. Drüen in Tipke/Kruse, § 5 AO Rz. 55).

3. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Übermaßverbot)

 

Tz. 22

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Das Übermaßverbot (Verhältnismäßigkeitsprinzip) ist eine Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG; z. B. BVerfG v. 05.12.2002, 2 BvL 5/98, 2 BvL 6/98, BVerfGE 107, 59). Es gebietet allgemein, dass die von der Behörde gewählte Maßnahme geeignet und erforderlich sein muss, um den erstrebten Zweck zu erreichen. Geeignet ist das Mittel, wenn mit seiner Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann; erforderlich ist es, wenn die Behörde nicht eine andere, gleich wirksame, aber das Grundrecht nicht oder doch weniger fühlbar einschränkende Entscheidung hätte treffen können (vgl. BFH v. 27.06.1984, II R 194/81, BStBl II 1984, 854). Außerdem muss sich die Maßnahme als im konkreten Einzelfall angemessen, d. h. verhältnismäßig im engeren Sinn erweisen und darf nicht außer Verhältnis zum erstrebten Erfolg stehen. Dieser Grundsatz gilt generell für belastende Verwaltungsakte und stellt eine objektive Grenze des behördlichen Ermessens dar (zu alledem z. B. Maurer, § 7 Rz. 23). Daher genügt es nicht, dass eine Ermessensentscheidung zwar abstrakt durch die gesetzliche Ermächtigung gedeckt ist, sondern sie muss das Übermaßverbot beachten, sich also im konkreten Einzelfall auf das im öffentlichen Interesse notwendige Maß beschränken (s. BFH v. 11.06.1997, X R 14/95, BStBl II 1997, 642, 645, BFH v. 22.02.2000, VII R 73/98, BStBl II 2000, 366, 369, Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen durch BVerfG, 1 BvR 1213/00 v. 15.11.2000, im Einzelnen Wernsmann in HHSp, § 5 AO Rz. 163 ff). Eine einfachgesetzliche Konkretisierung erfährt das Übermaßverbot z. B. in §§ 281 Abs. 2 und Abs. 3, 328 Abs. 2 AO (s. § 328 AO Rz. 9).

 

Tz. 23

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vorläufig frei

Dieser Inhalt ist unter anderem im Kühn, Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung (Schäffer-Poeschel) enthalten. Sie wollen mehr?


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