Tz. 16
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Regelung des § 155 Abs. 2 AO durchbricht als vorläufige Maßnahmeden Grundsatz der Trennung von Feststellungs- und Festsetzungsverfahren, wonach gesondert festzustellende Besteuerungsgrundlagen nicht durch einen Folgebescheid geregelt werden dürfen und umgekehrt (s. § 182 AO Rz. 2): Auch wenn ein erforderlicher Grundlagenbescheid noch nicht ergangen ist, ist der Erlass eines Steuerbescheids, in dem durch einen ausstehenden Grundlagenbescheid gesondert festzustellende Besteuerungsgrundlagen zu berücksichtigen sind, unter vorläufigem Ansatz dieser Besteuerungsgrundlagen zulässig. Das FA muss dabei alle betroffenen Besteuerungsgrundlagen berücksichtigen und selbst überprüfen (BFH v. 14.05.2014, X R 7/12, BStBl II 2015, 12 m. w. N.).Die Vorschrift beschränkt sich nicht auf den Erlass eines Steuerbescheides als Folgebescheid, sondern gilt nach § 181 Abs. 1 AO sinngemäß für alle Folgebescheide i. S. des § 182 Abs. 1 Satz 1 AO (Seer in Tipke/Kruse, § 155 AO Rz. 23 m. w. N.; v. Wedelstädt, AO-StB 2014, 349).
Tz. 16a
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Nach der Definition des § 171 Abs. 10 AO sind Grundlagenbescheide Feststellungs-, Steuermessbescheide und andere Verwaltungsakte, soweit sie für die Festsetzung einer Steuer bindend sind.
Grundlagenbescheid ist auch der ressortfremde Verwaltungsakt ("andererVerwaltungsakt", § 171 Abs. 10 AO). Da er regelmäßig materiell-rechtliche Voraussetzung für die steuerrechtliche Berücksichtigung der durch ihn festgestellten Besteuerungsgrundlage ist, ist die Anwendung des § 155 Abs. 2 AO in Fällen des fehlenden ressortfremden Grundlagenbescheids unzulässig und rechtswidrig (LfSt Bayern v. 22.07.2011 – S 2198b.2.1 – 9/9 St 32; v. Wedelstädt, AO-StB 2014, 150, 153 und 349, 350). Demgegenüber ist der BFH der Ansicht, dass § 162 Abs. 5 AO die Schätzung auch qualitativer Besteuerungsgrundlagen zulasse (BFH v. 14.05.2014, X R 7/12, BStBl II 2015, 12 m. w. N.). Folgt man dem BFH, unterliegt es pflichtgemäßem Ermessen,ob das FA die im ressortfremden Grundlagenbescheid festzustellende Besteuerungsgrundlage im Wege des § 155 Abs. 2 AO im Folgebescheid berücksichtigt; dabei ist vor allem zu berücksichtigen, inwieweit das Verfahren um die Erteilung der Bescheinigung fortgeschritten ist und welche Chancen auf Erteilung bestehen. Denn in diesem Fall würde eine Steuervergünstigung gewährt, die u. U. nicht gerechtfertigt ist. Es bestünde im Fall seiner Nichterteilung keine Änderungsmöglichkeit, es sei denn, sein Erlass wird ausdrücklich durch Verwaltungsakt abgelehnt, was einem negativen Grundlagenbescheid gleichzusetzen ist, der die Änderung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO eröffnet. Das FA handelt daher im pflichtgemäßen Ermessen, wenn es diesen Weg ablehnt (v. Wedelstädt, AO-StB 2014, 150, 153 und 349, 350; so auch Frotscher in Schwarz, AO, § 155 AO Rz. 46).
Tz. 17
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Regelung des § 155 Abs. 2 AO gilt nur in den Fällen, in denen ein Grundlagenbescheid noch nicht ergangen, aber dessen Erlass beabsichtigt ist (BFH v. 10.12.1998, III R 61/97, BStBl II 1999, 390 m. w. N.; Güroff in Gosch, § 155 AO Rz. 29 m. w. N.). Deshalb findet § 155 Abs. 2 AO keine Anwendung, wenn ein Feststellungsbescheid z. B. wegen Feststellungsverjährung nicht mehr ergehen kann (BFH v. 24.05.2006, I R 9/05, BFH/NV 2006, 2019). § 155 Abs. 2 AO ist auch im Rahmen von Fehlersaldierungen nach § 177 AO im Folgebescheid anwendbar, setzt aber auch voraus, dass im Folgebescheid eine erkennbar einstweilige Regelung getroffen wird (BFH v. 24.05.2006, I R 93/05, BStBl II 2007, 76).
Tz. 17a
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Da Voraussetzung ein ausstehender Grundlagenbescheid ist, darf der Folgebescheid nicht im Vorgriff auf die Änderung eines ergangenen und ausgewerteten Grundlagenbescheids unter Heranziehung des § 155 Abs. 2 AO z. B. nach § 164 AO oder im Rahmen einer Rechtsfehlersaldierung nach § 177 AO geändert werden; denn der bestehende (noch nicht geänderte) Grundlagenbescheid ist so lange bindend, als er noch nicht ersetzt wurde (BFH v. 06.12.1995, II R 24/93, BFH/NV 1996, 450; Frotscher in Schwarz/Pahlke, § 155 AO Rz. 38). Andererseits kann (muss!, § 85 AO) ein Grundlagenbescheid auch dann ergehen, wenn für den Veranlagungszeitraum bereits ein bestandskräftiger Steuerbescheid vorliegt (st. Rspr; BFH v. 10.11.1992, VIII R 100/90, BFH/NV 1993, 538).