Katharina Wagner, Dr. Klaus J. Wagner
Tz. 3
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Vorschrift betrifft die materielle Rechtskraft und regelt sie in objektiver und subjektiver Weise. Die materielle Rechtskraft reicht so weit, wie über den Streitgegenstand entschieden ist, setzt mithin ein Sachurteil voraus. Ein Prozessurteil entfaltet daher keine Bindungswirkung, die über die Entscheidung über die Sachurteilsvoraussetzungen hinausgeht (BFH v. 27.10.2010, VIII S 44/10, BFH/NV 2011, 2845). Streitgegenstand ist das Klagebegehren, also die Rechtsfolge, die der Kläger aus dem vorgetragenen Sachverhalt herleitet. Dabei ergibt sich der Umfang der materiellen Rechtskraft vor allem aus der Urteilsformel, also dem Tenor. Nur ergänzend sind bei Unklarheiten Tatbestand und Entscheidungsgründe mit heranzuziehen (BFH v. 19.12.2006, VI R 63/02, BFH/NV 2007, 924; BFH v. 12.01.2012, IV R 3/11, BFH/NV 2012, 779). Soweit der sachliche Umfang der materiellen Rechtskraft reicht, müssen die Beteiligten (§ 57 FGO), bei einheitlicher Feststellung von Besteuerungsgrundlagen auch die nicht klageberechtigten Beteiligten (§ 48 Abs. 1 Nr. 1 FGO), im Falle des § 60a FGO diejenigen Personen, die keinen bzw. keinen fristgerechten Antrag gestellt haben, die Rechtsnachfolger von Beteiligten und auch die öffentlich-rechtliche Körperschaft, der die beteiligte Finanzbehörde angehört, die Feststellungen des Urteils gegen sich gelten lassen (BFH v. 14.10.2008, I B 88/08, BFH/NV 2009, 184). Weder die Finanzbehörde noch die ihr übergeordneten Behörden, insbes. nicht die Oberfinanzdirektion als Aufsichtsbehörde, sind berechtigt, aus dem Sachverhalt mittels abweichender rechtlicher Beurteilung anderweitige Folgerungen herzuleiten. Auch steht die Bindungswirkung einer abweichenden finanzgerichtlichen Entscheidung in derselben Sache zwischen den Beteiligten und ihren Rechtsnachfolgern entgegen. Allerdings entsteht keine Bindungswirkung über mehrere Veranlagungszeiträume hinweg, wenn jeder Veranlagungszeitraum Streitgegenstand eines finanzgerichtlichen Verfahrens war (BFH v. 10.05.2012, IV R 34/09, BStBl II 2013, 471). Kommt das FG trotz gleichen Sachverhalts und unveränderter Rechtslage zu widersprüchlichen Ergebnissen, kann gleichwohl jede Entscheidung in Rechtskraft erwachsen. Die Widersprüchlichkeit berührt die Bindungswirkung der jeweiligen Entscheidung nicht. In aller Regel dürfte auch eine Änderung der Steuerfestsetzungen nach den Korrekturvorschriften der AO ausscheiden (BFH v. 12.01.2012, IV R 3/11, BFH/NV 2012, 779). Im Ergebnis bedeutet das: Eine Kollision von Rechtskraftwirkungen verschiedener Entscheidungen ist stets ausgeschlossen, wenn sie zu verschiedenen Streitjahren ergangen sind (BFH v. 30.08.2012, X B 231/11, BFH/NV 2013, 56).
Nicht an dem Rechtsstreit beteiligte Dritte bindet die Entscheidung nicht; allerdings kommt grundlegenden Entscheidungen oft eine präjudizielle Wirkung für vergleichbare Fallgestaltungen zu.
Die Bindungswirkung beschränkt sich auf die Anwendung des Abgabenrechtes auf den dem Urteil zugrunde gelegten Sachverhalt. Bei Urteilen betreffend Ermessensentscheidungen der Verwaltung ist die materielle Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung somit durch den Prozessstoff begrenzt, der sich aus der Zugrundelegung nur solcher Tatsachen ergibt, die bis zur letzten Verwaltungsentscheidung entstanden sind (s. § 102 FGO Rz. 3).
Tz. 4
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Auch bei Entscheidungen über gebundene Verwaltungsakte, wird der Umfang der materiellen Rechtskraft durch den Prozessstoff bestimmt. Die Wirkungen der Rechtskraft treten nur ein, soweit über den Streitgegenstand entschieden wurde (BFH v. 14.03.2006, VIII R 45/03, BFH/NV 2006, 1448; BFH v. 25.10.2012, XI B 48/12, BFH/NV 2013, 230; BFH v. 19.09.2012, X B 138/11, BFH/NV 2013, 63). Für die Bestimmung der materiellen Rechtskraft ist also zunächst auf den Streitgegenstandsbegriff zurück zu greifen (s. § 67 FGO Rz. 6; Michl, UR 2017, 826). Maßgeblich für den Umfang der Bindungswirkung ist, über welchen Streitgegenstand das FG tatsächlich entschieden hat. Deshalb spricht das Gesetz davon, dass die Bindung nur eintritt "soweit" über den Streitgegenstand entschieden wurde. Daraus folgt eine Differenzierung zwischen dem Streitgegenstand und dem Entscheidungsgegenstand. Der Entscheidungsgegenstand kann eine Teilmenge des Streitgegenstandes sein. Nur hinsichtlich dieser Teilmenge tritt die Bindungswirkung ein. Hat das Gericht über Sachverhalte nicht entschieden oder aus ihnen keine Folgerungen gezogen, fehlt es demnach an einer die Bindungswirkung auslösenden Entscheidung. Der Umfang der Bindungswirkung muss insoweit anhand der Urteilsformel ggf. unter Einbeziehung des Tatbestands und der Entscheidungsgründe ermittelt werden. Ferner tritt bei Teilentscheidungendes FG (Teilurteil, § 98 FGO; Zwischenurteil, §§ 97 und 98 FGO) ebenso wie bei Prozessurteilen materielle Rechtskraft nur hinsichtlich der streitgegenständlichen Teilfragen oder Prozessvoraussetzungen ein (BFH v. 19.10.2006, VI R 63/02, BFH/NV 2007, 924; BFH v. 14.0...