Karl Blesinger, Dr. Andreas Viertelhausen
Tz. 57
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Ein Irrtum über das Vorhandensein von Umständen, die zum gesetzlichen Tatbestand einer Straftat gehören, schließt den Vorsatz aus. Beruht diese Unkenntnis auf Fahrlässigkeit, so bleibt die Bestrafung des Täters wegen fahrlässiger Begehung unberührt, vorausgesetzt, dass diese strafbar (oder mit Geldbuße bedroht) ist (s. § 16 Abs. 1 StGB).
Tz. 58
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Der Irrtum über das Bestehen einer Steuerschuld ist der hauptsächliche Anwendungsfall des Tatbestandsirrtums im Bereiche der strafbaren Steuerverkürzung (BGH v. 05.03.1986, 2 StR 666/85, wistra 1986, 174; BGH v. 23.02.2000, 5 StR 570/99, NStZ 2000, 320). Hier irrt der Täter über die steuerliche Erheblichkeit von Tatsachen. Er nimmt irrtümlich die Bedeutungslosigkeit bestimmter Tatsachen an oder misst anderen Umständen eine Erheblichkeit zu, die sie tatsächlich nicht haben. So ist ein Irrtum über die steuerliche Abzugsfähigkeit von Beträgen (Schmiergeldern) Tatbestandsirrtum (BGH v. 25.05.1976, 5 StR 560/75, DB 1977, 1776), ebenso wie die irrtümliche Annahme, eine gewerbliche Tätigkeit sei freiberuflich, weswegen sie zwar in der Einkommensteuererklärung erfasst wird, aber eine Gewerbesteuererklärung unterbleibt (OLG Köln v. 04.03.2004, 2 Ws 702/03, NJW 2004, 3504). Auch die auf falschen Tatsachenannahmen beruhende Vorstellung, es bestehe keine Steuerschuld, schließt die Bestrafung wegen vorsätzlicher Steuerverkürzung aus. Beruht die Annahme, dass keine Steuerschuld bestehe, auf Fahrlässigkeit, insbes. auf der Vernachlässigung bestehender Erkundigungs- und Vergewisserungspflichten, so bleibt die Ahndung des Täterverhaltens als leichtfertige Steuerverkürzung im Sinne des § 378 AO (Ordnungswidrigkeit) unberührt (BGH v. 13.01.1988, 3 StR 450/87, wistra 1988, 196: § 378 AO stellt einen Auffangtatbestand für diejenigen Fälle dar, in denen der Vorsatz nicht festgestellt werden kann). In beiden Fällen handelt es sich um irrige Vorstellungen des Täters über Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand der Steuerverkürzung gehören, insbes. über das Bestehen einer Steuerschuld nach ihren Grundlagen und/oder ihrem betragsmäßigen Umfang. Hierher gehört auch der Irrtum über einschlägige Befreiungs- oder Vergünstigungsvorschriften (BGH v. 23.04.1986, 3 StR 57/86, wistra 1986, 220: Irrtum über die Berechtigung zum Vorsteuerabzug). Die Behandlung irriger Vorstellungen als Tatbestandsirrtum im Sinne des § 16 StGB geht davon aus, dass der Straftatbestand der Steuerhinterziehung – nach Art eines Blankettgesetzes – die materielle Regelung der Steuerpflicht als Ausfluss des gesetzlichen Steuertatbestandes (s. § 38 AO) jeweils einschließt, wodurch die Verletzung der Steuerpflicht zur tatbestandlichen Voraussetzung der Hinterziehung wird (BGH v. 19.05.1989, 3 StR 590/88, wistra 1989, 263; BGH v. 24.10.1990, 3 StR 16/90, wistra 1991, 107).
Tz. 59
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Als weitere Formen des Tatbestandsirrtums kommen irrige Vorstellungen über das Bestehen und den Umfang von Anmeldungs-, Erklärungs- oder Mitwirkungspflichten in Betracht. Das folgt daraus, dass § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO die konkrete Pflicht als Tatbestandsmerkmal normiert.
Tz. 60
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Tatbestandsirrtum ist aber auch der Irrtum, der sich bei Kenntnis des Bestehens der Steuerpflicht, auf die Ursächlichkeit des Täterverhaltens für den Eintritt einer strafbaren Verkürzung bezieht. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn der Täter sicher annimmt, das FA werde die Steuer auch ohne seine Erklärung zutreffend festsetzen (gegebenenfalls aufgrund von Schätzungen oder Durchschnittssätzen). In diesem Fall vertraut der Täter darauf, dass es nicht zu einer Verkürzung kommt. Regelmäßig wird der Täter in solchen Fällen aber eine Verkürzung billigend in Kauf nehmen – sei es durch eine zu niedrige oder verspätete Festsetzung.