Tz. 8
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Zu dem Bereich der Rechtsanwendung dagegen gehören die unbestimmten (normativen) Rechtsbegriffe, die zwar auch eine Bandbreite von Entscheidungsmöglichkeiten eröffnen, hierfür aber keine Auswahl zwischen mehreren gleichwertigen Möglichkeiten anbieten. Unbestimmte Rechtsbegriffe stellen sich als eine generalisierende Be- und Umschreibung (Generalklausel) dar. Wesentlicher Unterschied ist, dass sich Ermessensentscheidungen lediglich auf die Rechtsfolgen einer Vorschrift beziehen (BFH v. 11.06.1997, X R 14/95, BStBl II 1997, 642, 644). Ein Tatbestandsermessen existiert nicht (s. Rz. 3). Unbestimmte Rechtsbegriffe beziehen sich dagegen auf die Tatbestandsseite. Anders als Ermessensentscheidungen der Finanzbehörde (vgl. § 102 FGO) unterliegen unbestimmte Rechtsbegriffe der vollen gerichtlichen Überprüfung.
Tz. 9
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe und ihre Auslegungsbedürftigkeit führen nur ausnahmsweise zur Feststellung mangelnder Bestimmtheit eines Steuergesetzes (BVerfG v. 10.11.1981, 1 BvL 18/77, 1 BvL 19/77, BVerfGE 59, 36; BVerfG v. 20.05.1988, 1 BvR 273/88, HFR 1989, 317). Denn der Gesetzgeber kann sich auch unbestimmter Rechtsbegriffe bedienen, ohne dass damit ein Verstoß gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Gebot der Normenbestimmtheit einherginge; dies gilt auch für das Steuerrecht (st. BVerfG-Rspr., z. B. BVerfG v. 08.01.1981, 2 BvL 3/77, 2 BvL 9/77, BVerfGE 56, 1; Bartone in Rensen/Brink, S. 316 m. w. N.). Dem Bestimmtheitsgebot entspricht eine Steuerrechtsnorm allerdings dann nicht mehr, wenn der Gesetzgeber eine Vielzahl von unbestimmten Rechtsbegriffen verwendet, diese jeweils für sich genommen unter Anwendung des Auslegungskanons der juristischen Methodenlehre bestimmbar sind, jedoch jeweils mehrfache Auslegungsmöglichkeiten bestehen, sodass sich eine Gesamtunschärfe der Norm ergibt, weil – je nach Kombination der für die Einzelmerkmale gewonnenen Auslegungsmöglichkeiten – eine Vielzahl von Auslegungsergebnissen denkbar ist (Bartone in Rensen/Brink, S. 311; Bartone, S. 78 ff., insbes. S. 97 ff. zu § 8a KStG i. d. F. des StandOG [Standortsicherungsgesetz vom 13.09.1993, BGBl I, 1569]; vgl. in diesem Sinne auch BVerfG v. 07.07.1971, 1 BvR 775/66, BVerfGE 31, 255; BVerfG v. 03.03.2004, 1 BvF 3/92, BVerfGE 110, 33).
Tz. 10
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Beispiele für unbestimmte Rechtsbegriffe sind die Begriffe der erheblichen Härte (§ 222 AO), des Verschuldens (§§ 110, 152 Abs. 2 AO), des Missbrauchs von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts (§ 42 AO), der ernstlichen Zweifel (§ 361 Abs. 2 AO, § 69 Abs. 2 FGO), der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (§ 152 Abs. 2 AO), der kurzfristigen Unterbrechung (§ 9 AO), des unlauteren Mittels (§ 130 Abs. 2 Nr. 1 AO, § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c AO), der ähnlichen offenbaren Unrichtigkeit (§ 129 AO), der Erforderlichkeit (§ 251 Abs. 3 AO), der höheren Gewalt (§ 110 Abs. 3 AO, § 356 Abs. 2 AO). Sie sind durch die FG auszulegen und zu konkretisieren, damit sich ihr Regelungsgehalt hinreichend sicher erkennen lässt (vgl. z. B. BVerfG v. 15.01.2008, 2 BvF 4/05, BVerfGE 110, 394; Bartone in Rensen/Brink, S. 315).