Katharina Wagner, Dr. Klaus J. Wagner
Tz. 3
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Maßgeblich für die gerichtliche Überprüfung ist grds. die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (BFH v. 16.09.2014, X R 30/13, BFH/NV 2015, 150). Daran hat auch die nach § 102 Satz 2 FGO eröffnete Möglichkeit, Ermessenserwägungen bis zum Abschluss des finanzgerichtlichen Verfahrens zu ergänzen, nichts geändert. Das Gericht darf nur diejenigen Tatsachen bei der Überprüfung einer Ermessensentscheidung zugrunde legen, die im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung gegeben waren (st. Rspr., s. z. B. BFH v. 19.12.2016, XI B 57/16, BFH/NV 2017, 599). Dies gilt selbst dann, wenn der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch nicht vollzogen war (BFH v. 15.03.2013 VII B 201/12, BFH/NV 2013, 972). Zu eigenen Tatsachenermittlungen ist das Gericht nicht berufen. Fehlerfreie Ermessensausübung setzt aber ihrerseits voraus, dass die Ermessensentscheidung aufgrund einwandfreier und alle Möglichkeiten ausschöpfender Ermittlung des entscheidungserheblichen Sachverhalts getroffen wurde (BFH v. 15.06.1983, I R 76/82, BStBl II 1983, 672; BFH v. 16.09.1992, X R 169/90, BFH/NV 1993, 510) und dabei die Gesichtspunkte tatsächlicher und rechtlicher Art berücksichtigt wurden, die nach Sinn und Zweck der Norm, die das Ermessen einräumt, maßgeblich sind (BFH v. 23.05.1985, V R 124/79, BStBl II 1985, 489). Mangelt es an diesen Erfordernissen, ist schon deshalb das Recht des Betroffenen auf fehlerfreie Ermessensausübung verletzt. Die Fehlerhaftigkeit einer einzelnen Ermessenserwägung stellt jedoch keinen Ermessensfehler dar, wenn die Finanzbehörde ihre Entscheidung auf mehrere Ermessenserwägungen gestützt und zum Ausdruck gebracht hat, dass bereits jede einzelne der Ermessenserwägungen sie dazu veranlasst hat, die getroffene Entscheidung vorzunehmen (BFH v. 18.02.2016, V R 62/14, BStBl II 2016, 589).
Tz. 4
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Nach § 102 Satz 2 FGO kann die Finanzbehörde ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens ergänzen. Die Vorschrift ermöglicht also nur eine Nachbesserung, nicht aber eine Nachholung von Ermessenserwägungen. Dies bedeutet, dass weder der der Entscheidung zugrunde liegende Sachverhalt noch die Ermessenserwägungen ganz oder teilweise ausgetauscht werden dürfen. Da es sich nur um eine Ergänzung handelt, dürfen nur solche Erwägungen ergänzt werden, die bereits bei Erlass der Entscheidung vorhanden waren. Hat die Finanzbehörde keine Entscheidung getroffen oder ist sie zu Unrecht von einer gebundenen Entscheidung ausgegangen ("Ermessensnichtgebrauch"), scheidet eine Nachbesserung nach § 102 Satz 2 FGO aus, da keine ergänzungsfähige Ermessensentscheidung vorliegt. Denn das FA darf nur bereits an- und dargestellte Erwägungen vertiefen, verbreitern oder verdeutlichen. Ihm ist es verwehrt, Ermessenserwägungen im finanzgerichtlichen Verfahren erstmals anzustellen, die Ermessensgründe auszuwechseln oder vollständig nachzuholen (BFH v. 01.07.2008, II R 2/07, BStBl II 2008, 897 m. w. N.). Die Ergänzung ist nur bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz, also noch bis in der mündlichen Verhandlung, aber nicht mehr im Revisionsverfahren, möglich (BFH v. 26.07.2011, VII B 3/11, BFH/NV 2011, 2097; BFH v. 15.05.2013, VI R 28/12, BStBl II 2013, 737). Hierdurch dürfen dem Kläger keine unvorhersehbaren Rechtsnachteile entstehen; ggf. ist ihm nochmals Gelegenheit zur Stellungnahme einzuräumen. Führt erst das nachträglich Ergänzen der Erwägung zur Abweisung der Klage, stellt sich u. E. die Frage, ob nicht der Finanzbehörde in – ggf. entsprechender – Anwendung des § 137 FGO (teilweise) die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen sind.