1. Tatsächliche Gestaltung
Tz. 6
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts knüpft an die äußeren Begleitumstände an, unter denen sich jemand an einem Ort oder in einem Gebiet aufhält. Diese müssen darauf schließen lassen, dass der Aufenthalt nicht nur vorübergehend besteht, sondern auf eine gewisse Dauer angelegt ist. Wie beim Wohnsitz entscheidet mithin das äußere Bild; Absichten für sich allein oder Absichten, die im Widerspruch zur äußeren Gestaltung stehen, sind ohne Bedeutung (s. § 8 AO Rz. 2).
2. Nicht nur vorübergehender Aufenthalt
Tz. 7
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"Gewöhnlich" ist gleichbedeutend mit "dauernd" (AEAO zu § 9, Nr. 1). "Dauernd" erfordert keine ununterbrochene Anwesenheit und bedeutet auch nicht "immer". "Dauernd" ist i. S. von "nicht nur vorübergehend" zu verstehen. Eine Person muss sich an einem Ort oder in einem Gebiet unter Umständen aufhalten, die erkennen lassen, dass sie dort nicht nur vorübergehend verweilt. Bei Beginn des Aufenthaltes muss sich ihre Absicht oder Erwartung auf einen längeren Aufenthalt bezogen haben (BFH v. 30.08.1989, I R 215/85, BStBl II 1989, 956 m. w. N.). Jedoch reichen mehrfach aufeinander folgende Entsendungen eines Arbeitnehmers in das Inland bei einer Gesamtaufenthaltsdauer von sechs Monaten aus (BFH v. 19.06.2015, III B 143/14, BFH/NV 2015, 1386). Das Vorhandensein eines festen Mittelpunktes ist keine wesentliche Voraussetzung für die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts im Inland (BFH v. 07.04.2011, III R 89/08, BFH/NV 2011, 1324). Als gewöhnlicher Aufenthalt i. S. des § 9 gilt auch der sechsmonatige Aufenthalt in Gemeinschaftsunterkünften während eines Asylverfahrens (BFH v. 15.07.2010, III R 77/08, BFH/NV 2010, 2255). Auch ein inländischer Aufenthalt von weniger als sechs Monaten jährlich kann als gewöhnlicher Aufenthalt i. S. des Satzes 1 zu qualifizieren sein, wenn der Aufenthalt auf einen längeren Aufenthalt angelegt war (BFH v. 30.08.1989, I R 215/85, BStBl II 1989, 956 m. w. N.), aber z. B. durch ein unvorhersehbares Ereignis abgebrochen werden musste (FG RP v. 10.05.1975, III 16/75, EFG 1975, 446). Durch eine Abwesenheit im Ausland, die ihrer Natur nach nur vorübergehenden Charakter hat, wird ein gewöhnlicher Aufenthalt im Inland nicht beendet (BFH v. 30.08.1989, I R 215/85, BStBl II 1989, 956 m. w. N.). Eine mehr als einjährige Abwesenheit im Ausland beendet regelmäßig den gewöhnlichen Aufenthalt im Inland; ein Fortbestehen des gewöhnlichen Aufenthalts im Inland kann nur ausnahmsweise angenommen werden (BFH v. 27.04.2005, I R 112/04, BFH/NV 2005, 1756 ff.). Bei Seeleuten spricht bei einem Auslandsaufenthalt von mehr als sechs Monaten eine Vermutung dafür, dass der bisherige inländische gewöhnliche Aufenthalt aufgegeben worden ist (BFH v. 27.07.1962, VI 156/59 U, BStBl III 1962, 429). Der steuerliche Aufenthalt der Ehefrau ist unabhängig von dem des Ehemannes und umgekehrt (BFH v. 14.11.1969, III R 95/68, BStBl II 1970, 153).
Tz. 8
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Sog. Grenzgänger haben im Inland nicht schon deswegen ihren gewöhnlichen Aufenthalt, weil sie sich während der Arbeitszeit im Inland aufhalten (BFH v. 25.01.1989, I R 205/82, BStBl II 1990, 687); dasselbe gilt für einen im Ausland wohnenden Unternehmer mit Betrieb in der Bundesrepublik, der nach Geschäftsschluss regelmäßig an seinen Wohnsitz im Ausland zurückkehrt (BFH v. 06.02.1985, I R 23/82, BStBl II 1985, 331; für beide Fälle: AEAO zu § 9, Nr. 2).
3. Begründung und Aufgabe des gewöhnlichen Aufenthalts
Tz. 9
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Da es sich nicht um rechtsgeschäftliche Willenserklärungen, sondern um Realakte handelt, bedarf es für die Begründung und Aufgabe des gewöhnlichen Aufenthalts keiner Geschäftsfähigkeit, sondern nur einer tatsächlichen Willensbetätigung. Auch ein Zwangsaufenthalt begründet einen gewöhnlichen Aufenthalt (BFH v. 14.11.1986, VI B 97/86, NV 1987, 262 betr. Strafgefangene; BFH v. 23.07.1971, III R 60/70, BStBl II 1971, 758 betr. Krankenhausaufenthalt). Entscheidend sind die Verhältnisse in dem jeweils zu beurteilenden Zeitraum (BFH v. 27.04.2005, I R 112/04, BFH/NV 2005, 1756 ff.). Verweilt jemand nicht nur vorübergehend im Inland, kommt es auf weitere enge persönliche und gesellschaftliche Bindungen zu einem anderen Aufenthaltsort nicht mehr an (FG Köln v. 02.03.2010, 15 K 4135/05, EFG 2010, 921).
Tz. 10
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Ein gewöhnlicher Aufenthalt endet, wenn an einem anderen Ort oder in einem anderen Gebiet ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet wird (s. Rz. 2). Ein gewöhnlicher Inlandsaufenthalt erlischt, wenn jemand nicht mehr im Inland persönlich anwesend ist und den Willen zur Rückkehr in das Inland nicht mehr hat (BFH v. 28.08.1968, I 254/65, BStBl II 1968, 818; s. auch AEAO zu § 9, Nr. 4 Satz 2), gleichgültig, ob der Rückkehrwille bei Verlassen schon nicht mehr bestand oder ob er später aufgegeben worden ist. Dies gilt auch dann, wenn es später zur erneuten Einreise kommt (Buciek in Gosch, § 9 AO Rz. 48; Drüen in Tipke/Kruse, § 9 AO Rz. 11). Zur Frage der Unterbrechung des Aufenthalts s. Rz. 7.
4. Fiktion des gewöhnlichen Inlandsaufenthaltes
a) Regelfall (§ 9 Satz 2 AO)
Tz. 11
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