Tz. 9
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die regelmäßige Festsetzungsfrist verlängert sich im Falle einer Steuerhinterziehung (§ 370 AO) auf zehn Jahre und im Falle einer leichtfertigen Steuerverkürzung (§ 378 AO) auf fünf Jahre. § 169 Abs. 2 Satz 2 AO verweist ausschließlich auf die Tatbestände der §§ 370, 378 AO (BFH v. 02.04.2014, VIII R 38/13, BStBl. II 2014, 698). Das strafbare Erschleichen einer Subvention (z. B. EigZul) wird aber nicht von diesen Normen erfasst, sondern von § 264 StGB, sodass § 169 Abs. 2 Satz 2 AO nicht im Falle des Subventionsbetrugs eingreift (BFH v. 12.01.2016, IX R 20/15, BStBl II 2017, 21). Auch andere Straftatbestände oder Ordnungswidrigkeiten führen folglich nicht zu einer Verlängerung der Festsetzungsfrist, auch nicht die Steuerhehlerei nach § 374 AO. Die Festsetzungsfrist verlängert sich daher nur, soweit die Steuer gem. § 370 AO hinterzogen oder gem. § 378 AO leichtfertig verkürzt worden ist, im Übrigen bleibt es bei der regulären Festsetzungsfrist, sodass einzelne Teilbeträge desselben Steueranspruchs unterschiedlich verjähren können (Teilverjährung; BFH v. 20.11.2012, IX R 30/12, BStBl II 2013, 995 m. w. N.). Die Festsetzung der Steuern nach Ablauf der regelmäßigen Festsetzungsfrist muss der Stpfl. in Kauf nehmen, weil er die nicht rechtzeitige Festsetzung der Steuern verschuldet und folglich insoweit keinen Anspruch auf Rechtssicherheit hat (Drüen in Tipke/Kruse, § 169 AO Rz. 13). Für die Verlängerung der Festsetzungsfrist ist unerheblich, ob die Steuerhinterziehung oder leichtfertige Steuerverkürzung durch den Steuerschuldner selbst oder einen Dritten begangen worden ist, § 169 Abs. 2 Satz 3 AO (BFH v. 19.12.2002, IV R 37/01, BStBl II 2003, 385; BFH v. 19.12.2002, IV R 37/01, BStBl II 2003, 385). Es kommt allein darauf an, dass der jeweilige objektive und subjektive Tatbestand des § 370 AO erfüllt ist (BFH v. 02.04.2014, VIII R 38/13, BStBl II 2014, 698; BFH v. 15.11.2017, I B 27/17, BFH/NV 2018, 542). Die Steuerhinterziehung muss vollendet sein. Der bloße Versuch (§§ 22, 23 StGB, § 370 Abs. 2 AO) genügt nicht. Darüber hinaus muss der Täter rechtswidrig und schuldhaft gehandelt haben. Daher schließen Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungs- bzw. Entschuldigungsgründe die Steuerhinterziehung (und die leichtfertige Steuerverkürzung) aus (vgl. Drüen in Tipke/Kruse, § 169 AO Rz. 15). Eine Steuer ist i. S. des § 378 AO leichtfertig verkürzt, wenn der objektive und der subjektive Tatbestand erfüllt sind; leichtfertig bedeutet dabei einen erhöhten Grad von Fahrlässigkeit (s. § 378 AO Rz. 8 ff.). Die Vorschrift setzt dagegen nicht voraus, dass der Steuerschuldner selbst oder die Person, derer er sich zur Erfüllung seiner steuerlichen Pflichten bedient, die Steuerhinterziehung begangen hat (BFH v. 28.10.2004, VII B 298/03, BFH/NV 2005, 1021; BFH v. 30.03.2005, VII S 13/05, BFH/NV 2005, 1349). § 169 Abs. 2 Satz 2 AO gilt nicht, wenn der Steuerberater bei der Erstellung der ESt-Erklärung den Gewinn leichtfertig fehlerhaft ermittelt, da der Steuerberater mangels eigener Angaben gegenüber dem FA nicht Täter einer leichtfertigen Steuerverkürzung nach § 378 AO i. V. m. § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO ist (BFH v. 29.10.2013, VIII R 27/10, BStBl II 2014, 295). Dem Stpfl. kann das leichtfertige Handeln des Steuerberaters weder nach straf- oder bußgeldrechtlichen noch nach steuerrechtlichen Grundsätzen zugerechnet werden (BFH v. 29.10.2013, VIII R 27/10, BStBl II 2014, 295).
Tz. 9a
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Ob eine Steuerhinterziehung i. S. des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO vorliegt, wird nach den verfahrensrechtlichen Vorschriften der AO und nicht nach strafprozessualen Grundsätzen entschieden (BFH v. 07.11.2006, VIII R 81/04, BStBl II 2007, 364; BFH v. 15.11.2017, I B 27/17, juris). Insofern gelten die steuerrechtlichen Grundsätze der Feststellungslastverteilung, sodass ggf. ein Anscheinsbeweis genügen kann (Müller, AO-StB 2002, 173; Vogelberg, AO-StB 2001, 223). In Zweifelsfällen wird die Rechtsprechung dennoch den strafprozessualen Grundsatz "in dubio pro reo" anwenden (Müller, AO-StB 2002, 173; auch BFH v. 07.11.2006, VIII R 81/04, BStBl II 2007, 364; BFH v. 18.11.2013, X B 237/12, BFH/NV 2014, 369). Persönliche Strafaufhebungsgründe (strafbefreiende Selbstanzeige, § 371 AO, vgl. auch § 378 Abs. 3 AO) oder Strafverfolgungshindernisse (z. B. strafrechtliche Verjährung nach § 78 Abs. 3 Nr. 5 AO) sind für die Anwendung des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO ohne Bedeutung und haben keinen Einfluss auf den Lauf der verlängerten Festsetzungsfrist (Drüen in Tipke/Kruse, § 169 AO Rz. 13), ebenso wenig die Richtigstellung der unrichtigen Angaben vor Ablauf der normalen Festsetzungsfrist von vier Jahren (§ 154 AO; BFH v. 24.03.2011, IV R 13/09, BFH/NV 2011, 1826).
Tz. 10
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die verlängerte Festsetzungsfrist gilt auch für den Gesamtrechtsnachfolger (BFH v. 20.06.2007, II R 66/06, BFH/NV 2007, 2057). Bei Gesamtschuldnern wie z. B. zusammenveranlagten Eheleuten muss jeder der Steuerschuldner...