Tz. 43
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
§ 4 RAO 1919 lautete: "Bei der Auslegung der Steuergesetze sind ihr Zweck, ihre wirtschaftliche Bedeutung und die Entwicklung der Verhältnisse zu berücksichtigen." Diese Norm, die 1977 nicht in die AO übernommen wurde, ist Ausdruck der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Steuerrecht und entspricht sinngemäß auch heute noch dem herrschenden Methodenverständnis (Osterloh, JbdÖR, S. 152). Bei der Auslegung von Steuerrechtsnormen ist daher neben den oben genannten Auslegungsmethoden (s. Rz. 35 ff.) auch die wirtschaftliche Betrachtungsweise zugrunde zu legen. Diese ist in der AO selbst angelegt: So kommt die wirtschaftliche Betrachtungsweise z. B. in § 39 Abs. 2 Nr. 1 AO (wirtschaftliches Eigentum), § 40 AO (steuerliche Unbeachtlichkeit des Verstoßes gegen gesetzliche Gebote oder Verbote oder die guten Sitten) oder § 41 Abs. 1 Satz 1 AO (steuerliche Unerheblichkeit der Unwirksamkeit von Rechtsgeschäften; s. § 41 AO Rz. 5) und § 41 Abs. 2 Satz 2 AO (Maßgeblichkeit des tatsächlich wirtschaftlich Gewollten) zum Tragen.
Tz. 44
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Auslegung nach der wirtschaftlichen Betrachtungsweise berücksichtigt die wirtschaftliche Bedeutung von Steuerrechtsnormen und geht davon aus, dass sie in weitem Umfang an Tatbestände des Wirtschaftslebens anknüpfen. Die wirtschaftliche Betrachtungsweise beruht auf der mittlerweile selbstverständlichen Erkenntnis, dass gleiche Begriffe verschiedener Teilrechtsordnungen nicht notwendig gleich ausgelegt werden müssen. Vielmehr ist von einer eigenen, von der zivilrechtlich losgelösten steuerrechtlichen Begriffsbildung auszugehen (Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 322; Osterloh, JbdÖR, S. 152). Insbes. ist es auch verfassungsrechtlich unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung nicht geboten, stets und ausschließlich steuerrechtliche Begriffe entsprechend ihrem bürgerlich-rechtlichen Gehalt auszulegen (BVerfG v. 24.01.1962, 1 BvR 845/58, BVerfGE 13, 331; BVerfG v. 26.03.1969, 1 BvR 512/66, BVerfGE 25, 309; BVerfG v. 27.12.1991, 2 BVR 72/90, BStBl II 1992, 212; BVerfG v. 03.06.1992, 1 BvR 583/86, NJW 1993, 1189). Denn die Einheit der Rechtsordnung meint die widerspruchsfreie Einordnung von Normen in das Wertesystem des GG, nicht die Verwendung identischer Begriffe in den Teilrechtsordnungen (vgl. Zippelius, Kapitel III § 10, S. 40; s. Rz. 39). Zivilrecht und Steuerrecht sind nebengeordnete, gleichrangige Rechtsgebiete, die denselben Sachverhalt aus einer anderen Perspektive und unter anderen Wertungsgesichtspunkten beurteilen. Privatrechtssubjekte können zwar einen Sachverhalt vertraglich gestalten, nicht aber die steuerrechtlichen Folgen bestimmen, die das Steuergesetz an die vorgegebene Gestaltung knüpft. Insoweit gilt zwar eine Vorherigkeit (Präzedenz), aber kein Vorrang (Prävalenz) des Zivilrechts (BFH v. 20.01.1999, I R 69/97, BStBl II 1999, 514; BFH v. 06.03.2008, VI R 6/05, BStBl II 2008, 530).
Tz. 45
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Diese wirtschaftliche Betrachtungsweise ist insbes. bei Steuern vom Einkommen, Ertrag und Vermögen für das Steuerrecht maßgeblich. Verkehrsteuern hingegen knüpfen in erster Linie an Vorgänge des rechtlichen und geschäftlichen Verkehrs und deren äußeres Erscheinungsbild an; teilweise legen sie auch Rechtsbegriffe zugrunde, die im Zivilrecht geprägt sind. Auch auf dem Gebiet der ErbSt ist Raum für eine wirtschaftliche Betrachtungsweise, obwohl die Tatbestände dieser Steuer weithin auf Vorgänge abstellen, die in erbrechtlichen Begriffen Ausdruck finden. Soweit es darauf ankommt, Umgehungen zu verhindern, prägen sowohl die Verkehrsteuergesetze als auch das ErbStG Ersatztatbestände, die auf das wirtschaftliche Ergebnis abstellen, das mit den üblichen Gestaltungen typischerweise verbunden ist. Bei der Feststellung, zwischen welchen Vertragspartnern sich ein Leistungsaustausch i. S. des UStG abspielt, herrscht entsprechend dem Verkehrsteuercharakter, den die USt in ihrer gesetzestechnischen Gestaltung aufweist, die rechtsförmliche Betrachtung vor; hingegen ist eine wirtschaftliche Betrachtungsweise nötig, soweit es sich um den Gegenstand und den Umfang des steuerbaren Leistungsaustauschs handelt. Die Zoll- und Verbrauchsteuergesetze, die überwiegend eigene Wirtschaftsbegriffe verwenden, erfordern grds. eine ihrem Wesen gemäße wirtschaftliche Betrachtungsweise, soweit die einzelne Rechtsnorm sich nicht ausdrücklich auf die technische Anknüpfung bezieht.
Tz. 46
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Grenzen der wirtschaftlichen Betrachtungsweise werden durch die Grundprinzipien der Tatbestandsmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit der Besteuerung (s. § 3 AO Rz. 14) gesteckt: Sie kann weder das Fehlen eines gesetzlichen Steuertatbestands oder Tatbestandsmerkmals ersetzen, noch vermag sie, einen Sachverhalt rein wirtschaftlich und ohne Rücksicht auf den gesetzlichen Tatbestand zu qualifizieren (Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 334 m. w. N.).
Tz. 47
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
vorläufig frei