Katharina Wagner, Dr. Klaus J. Wagner
1. Abschließende Aufzählung der Revisionsgründe
Tz. 9
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Aufzählung der Zulassungsgründe in § 115 Abs. 2 FGO ist abschließend. Mit der seit dem 01.01.2001 in Kraft getretenen Neuordnung des Revisionsrechts wurde eine langjährige Diskussion über das Revisionsrecht beendet. Es lässt sich aber darüber diskutieren, ob dem Individualrechtsschutz durch die derzeitigen Zulassungsgründe hinreichend Rechnung getragen wird. In der Tat stellt sich die Frage, ob die mit der Reform beabsichtigte Ausweitung der Revisionsmöglichkeiten erreicht wurde; dies liegt aber weniger an den gesetzlichen Vorgaben als an der restriktiven Revisionszulassung durch die Finanzgerichte und den BFH. Einer Streitwertrevision bedarf es u. E. zur Sicherung des Individualrechtsschutzes nicht, da allein der Wert des Streitgegenstandes nicht automatisch den Weg zu einer höchstrichterlichen Entscheidung eröffnen muss.
2. Grundsätzliche Bedeutung
Tz. 10
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Grundsätzliche Bedeutung i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO hat nach st. Rspr. eine Rechtssache dann, wenn eine Rechtsfrage zu entscheiden ist, an deren Beantwortung ein allgemeines Interesse besteht, weil ihre Klärung das Interesse der Allgemeinheit an der Fortentwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Es muss sich um eine aus rechtssystematischen Gründen bedeutsame und auch für die einheitliche Rechtsentwicklung wichtige Frage handeln (statt aller: BFH v. 26.06.2000, III B 19/00, BFH/NV 2001, 48; BFH v. 08.06.2010, X B 126/09, BFH/NV 2010, 1628). Hiernach genügt nicht schon der Umstand, dass über einen Sachverhalt der streitigen Art bisher nicht entschieden ist; vielmehr muss die Rechtsfrage für eine Mehrzahl gleichgelagerter Fälle von Bedeutung sein, sog. Breitenwirkung. Ein Umkehrschluss, dass jeder Frage, die eine Vielzahl gleichartiger Fälle betrifft, schon deshalb grundsätzliche Bedeutung zukomme, ist dabei nicht möglich (BFH v. 10.02.1995, III B 30/92, BFH/NV 1995, 927). Andererseits entfällt die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtsfrage nicht allein deshalb, weil die einschlägige Rechtsnorm außer Kraft getreten ist, wenn ihre seinerzeitige Gültigkeit oder Reichweite in Frage gestellt ist, noch keine höchstrichterliche Entscheidung vorliegt, noch eine Vielzahl gleichartiger Streitfälle anhängig ist oder eine inhaltsgleiche Nachfolgeregelung geschaffen worden ist (st. Rspr., u. a. BFH v. 18.09.2002, IV B 110/00, BFH/NV 2003, 186; BFH v. 31.10.2013, V B 67/12, BFH/NV 2014, 578). Allerdings kann diese Fallkonstellation ohnehin durch § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO (Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung) gedeckt sein.
Tz. 11
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Rechtsfrage – der unbestimmte Rechtsbegriff "Rechtssache" in § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO ist gleichbedeutend damit –, der grundsätzliche Bedeutung beizumessen ist, muss sich auf den tatsächlichen oder möglichen Gegenstand des finanzgerichtlichen Urteils beziehen und für die Entscheidung des Revisionsgerichts erheblich sein (BFH v. 26.08.1986, VII B 107/86, BStBl II 1986, 865). Es muss also eine Rechtsfrage klärungsbedürftig (s. Rz. 20) sein. Die Rechtsfrage braucht nicht dem materiellen Recht – dazu gehört aus finanzgerichtlicher und revisionsrechtlicher Sicht auch das Verwaltungsverfahrensrecht der AO – anzugehören, sie kann sich auch auf das Verfahrensrecht beziehen, nämlich auf als wesentlich erkannte und thematisierte Grundsatzfragen des finanzgerichtlichen Verfahrensrechts.
Auch bei Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einer Vorschrift (nur bei der Bejahung der Verfassungswidrigkeit muss das FG die Sache dem BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG vorlegen) kann dieser Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung zukommen. Dabei kann die grundsätzliche Bedeutung nicht mit dem Hinweis darauf verneint werde, der BFH könne – die Verfassungswidrigkeit unterstellt – nicht zugunsten des Rechtsmittelführers entscheiden, weil dann eine Vorlagepflicht an das BVerfG bestehe (BFH v. 28.07.1994, III B 37/90, BStBl II 1994, 795) Grundsätzliche Bedeutung kann aber nicht allein schon daraus hergeleitet werden, dass ein FG ein konkretes Normenkontrollverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG eingeleitet hat (BFH v. 13.10.1967, VI B 43/67, BStBl II 1968, 118); dies hängt davon ab, ob sich dem Vorlagebeschluss "vernünftige" Zweifel entnehmen lassen. Allein die rechtlichen Auswirkungen der Rechtssache sind für die Frage der Zulassung maßgeblich, nicht aber die wirtschaftlichen Auswirkungen für den Kläger.
Auch Fragen bezüglich der Vereinbarkeit nationalen Rechts mit europarechtlichen Vorschriften können die Annahme grundsätzlicher Bedeutung rechtfertigen. Hier reicht es für die Revisionszulassung aus, wenn wahrscheinlich erscheint, dass der BFH ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH stellen muss (BFH v. 14.03.2000, XI B 135/98, BFH/NV 2000, 883).
Tz. 12
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung rechtfertigen die Zulassung der Revision nur dann, wenn es sich um eine klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage handelt.
Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage...