Tz. 48
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Während die Auslegung von Steuerrechtsnormen das Ziel verfolgt, Inhalt und Sinn eines Gesetzes zu erschließen (s. Rz. 34), geht es bei der Rechtsfortbildung darum, über den möglichen Wortsinn einer Norm hinaus vorhandene Lücken des Gesetzes auszufüllen (Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 344). Die lückenausfüllende Rechtsfortbildung gehört zu den Kernkompetenzen der FG (§ 11 Abs. 4 FGO und § 115 Abs. 2 FGO; z. B. BFH v. 25.11.1993, V R 64/89, BStBl II 1994, 212). Die Rechtsprechung ist gleichwohl nicht berufen, durch Rechtsfortbildung eine unzweckmäßige Regelung gegen den Willen des Gesetzgebers zu verändern (BFH v. 24.04.2002, I R 25/01, BStBl II 2002, 586). Die Grenze der richterlichen Rechtsfortbildung ist daher überschritten, wenn die einschlägigen gesetzlichen Regelungen nach ihrem auslegungsfähigen und auslegungsbedürftigen Wortlaut, ihrer Systematik und ihrem erkennbaren Sinn so ausgestaltet sind, dass die von der Rechtsprechung ausgesprochene Rechtsfolge hierzu in Widerspruch gerät; in einem solchen Fall kommt in Betracht, dass sich die Rechtsprechung in rechtsstaatswidriger Weise an die Stelle des Gesetzgebers setzt (BVerfG v. 22.12.1992, 1 BvR 1333/89, NJW 1993, 2734; BFH v. 25.11.1993, V R 64/89, BStBl II 1994, 212).
Tz. 49
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Ausfüllung einer Gesetzeslücke kommt insbes. durch Analogie (argumentum a simile) in Betracht. Voraussetzung ist eine planwidrige Regelungslücke (s. Rz. 50), die unter Heranziehung einer vergleichbaren, analogiefähigen Norm geschlossen wird (s. Rz. 52 f.).
Tz. 50
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Eine Regelungslücke liegt vor, wenn "eine Regelung gemessen an ihrem Zweck unvollständig, d. h. ergänzungsbedürftig ist und wenn ihre Ergänzung nicht einer vom Gesetzgeber beabsichtigten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widerspricht" (BFH v. 26.06.2002, IV R 39/01, BStBl II 2002, 697; BFH v. 31.03.2014, III B 147/13, BFH/NV 2014, 1035). Von einer Lücke kann jedoch nicht schon bei jeder rechtspolitisch verbesserungswürdigen Regelung ausgegangen werden (BFH v. 28.05.1993, VIII B 11/92, BStBl II 1993, 665 m. w. N.). Zur Abgrenzung Regelungslücke von rechtspolitischem Fehler BFH v. 12.10.1999, VIII R 21/97, BStBl II 2000, 220. Auch muss sich die Lücke nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen schließen lassen, was nicht zutrifft, wenn die Lücke dadurch entstanden ist, dass das Verfassungsgericht eine Steuerrechtsnorm für grundgesetzwidrig erklärt hat (BFH v. 31.07.1964, VI 117/61 U, BStBl III 1964, 459).
Tz. 51
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Die Lücke ist planwidrig, wenn die Nichtregelung eines bestimmten Sachverhaltes auf einem Versehen des Gesetzgebers beruht und angenommen werden kann, dass der Gesetzgeber den Fall, wäre er sich seiner bewusst gewesen, geregelt hätte (BFH v. 26.06.2002, IV R 39/01, BStBl II 2002, 697; BFH v. 26.01.2006, V R 70/03, BStBl II 2006, 387). Demgegenüber können rechtspolitische Unvollständigkeiten, d. h. Lücken, die nicht dem Gesetzesplan widersprechen, sondern lediglich vom Rechtsanwender als rechtspolitisch unerwünscht empfunden werden, entsprechend dem Prinzip der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) nicht von den Gerichten geschlossen werden. Sie zu schließen bleibt ausschließliche Aufgabe des Gesetzgebers (BFH v. 31.03.2014, III B 147/13, BFH/NV 2014, 1035).
Tz. 52
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Der geregelte Fall und der ungeregelte Fall müssen vergleichbar sein. Dies ist anzunehmen, wenn der Plan der gesetzlichen Regel auf den nicht geregelten Fall erstreckt werden kann (BFH v. 09.10.1996, XI R 35/96, BStBl II 1997, 124).
Tz. 53
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die herangezogene Norm muss analogiefähig sein, d. h., die Schließung der Regelungslücke durch eine Analogie muss prinzipiell zulässig sein. Nach hier vertretener Auffassung kommt jedenfalls eine Analogie zulasten des Stpfl. (steuerverschärfende oder steuerbegründende Analogie) wegen der Grundrechtsrelevanz der Steuererhebung und der damit einhergehenden Determinierung des Steuerrechts durch das förmliche Gesetz (Gesetzmäßigkeit und Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung; s. § 3 AO Rz. 16) ausgeschlossen. Denn ein belastender Verwaltungsakt und der dadurch bewirkte hoheitliche Eingriff in die Grundrechte – wie ihn der Steuerzugriff darstellt – bedürfen einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage (z. B. BVerfG v. 14.08.1996, 2 BvR 2088/93, NJW 1996, 3146; zutr. R. Wendt in FS Wadle, S. 1222; Wernsmann in HHSp, § 4 AO Rz. 694; Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 361 f. mit anderem Begründungsansatz). Dies wird durch die analoge Anwendung einer Steuernorm gerade nicht gewährleistet. Die Gegenauffassung (insbes. Tipke, StRO, Bd. I, 202, 223 ff.; BFH v. 14.02.2007, II R 66/05, BStBl II 2007, 621 zur "zweischneidigen Analogie") ist daher abzulehnen (Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 360 mit zahlreichen Nachweisen auch der Gegenauffassung).
Demgegenüber ist eine Rechtsfortbildung durch Analogie zugunsten der Stpfl. uneingeschränkt zuläs...