Tz. 20
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Angabe des Grundes der Vorläufigkeit dient dem Rechtsschutzinteresse des Stpfl. Das FA muss mitteilen, welche Umstände einer endgültigen Festsetzung entgegenstehen und hinsichtlich welcher Tatsachen es sich eine weitere Prüfung vorbehält (BFH v. 12.07.2007, X R 22/05, BStBl II 2008, 2; von Wedelstädt in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 632). In den Fällen des § 165 Abs. 1 Satz 2 AO muss das dem Vorläufigkeitsvermerk zugrunde liegende Musterverfahren nicht im Einzelnen nach Gericht und Aktenzeichen bezeichnet werden, es reicht die Angabe der Rechtsgrundlage (BFH v. 30.09.2010, III R 39/08, BStBl II 2011, 11 m. w. N.). Fehlt der Grund, ist der Steuerbescheid rechtswidrig, nicht nichtig (BFH v. 30.06.1994, V R 106/91, BFH/NV 1995, 466 m. w. N.). Die Begründung kann bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz im finanzgerichtlichen Verfahren nachgeholt werden (§ 126 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 AO). Hat der Stpfl. wegen fehlender Begründung die Einspruchsfrist versäumt, ist § 126 Abs. 3 AO einschlägig: Fehlt die Angabe des Grundes und hat der Stpfl. deshalb die rechtzeitige Anfechtung des Steuerbescheids versäumt, gilt die Versäumung der Einspruchsfrist als nicht verschuldet, sodass Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO in Betracht kommt (Seer in Tipke/Kruse, § 165 AO Rz. 33).
Tz. 21
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Der Umfang der Vorläufigkeit, d. h. ihre quantitative Auswirkung, muss aus dem Bescheid hervorgehen. Dies geschieht meist im Rahmen der Erläuterungen der Steuerfestsetzung. Die Bestimmung des Umfangs kann sich auch aus den gesamten Umständen wie z. B. aus den Erläuterungen im Wege der Auslegung zum Bescheid ergeben. Dabei ist entscheidend, wie der Adressat den Vorläufigkeitsvermerk nach den ihm bekannten Umständen – seinem "objektiven Verständnishorizont" – unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte (BFH v. 16.09.2004, X R 22/01, BFH/NV 2005, 322 m. w. N.). Die Erkennbarkeit des Umfangs der Vorläufigkeit kann sich auch daraus ergeben, dass der Stpfl. aufgrund seines eigenen Verhaltens Schlüsse auf den Umfang der Vorläufigkeit ziehen muss (BFH v. 12.07.2007, X R 22/05, BStBl II 2008, 2 m. w. N.). Im Zweifelsfall ist das für den Stpfl. weniger belastende Auslegungsergebnis heranzuziehen (BFH v. 27.11.1996, X R 20/95, BStBl II 1997, 791). Zwar bezieht sich die Vorläufigkeit nicht auf Besteuerungsgrundlagen, sondern nur auf die Festsetzung der Steuer; in der Praxis jedoch folgt aus der tatsächlichen Ungewissheit über die Besteuerungsgrundlage regelmäßig auch die Ungewissheit des Umfangs der Auswirkungen auf die festzusetzende Steuer, sodass die betragsmäßige Auswirkung nicht angegeben werden muss. Es reicht deshalb aus, wenn durch den Vorbehaltsvermerk jedenfalls mittelbar auch der Rahmen abgesteckt ist, innerhalb dessen die Steuerfestsetzung abänderbar sein und damit die Bestandskraft durchbrochen werden soll (h. M.; u. a. BFH v. 30.09.2010, III R 39/08, BStBl II 2011, 11 m. w. N.; Seer in Tipke/Kruse, § 165 AO Rz. 34; Rüsken in Klein, § 165 AO Rz. 31c; von Wedelstädt in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 635; a. A. Oellerich in Gosch, § 165 AO Rz. 102; Heuermann in HHSp, § 165 AO Rz. 24). Im einzelnen Fall kann insbes. bei der Festsetzung von Einzelsteuern wie Grunderwerbsteuer, Erbschaftsteuer o. Ä. eine vollumfängliche Vorläufigkeit denkbar und zulässig sein, wenn nicht gar eine Aussetzung der Steuerfestsetzung in Betracht kommt (BFH v. 14.07.2003, II B 121/01, BFH/NV 2004, 2; s. Rz. 24).
Tz. 22
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Geht aus dem Steuerbescheid und den sonstigen Umständen nicht hervor und lässt sich auch nicht durch Auslegung ermitteln, welchen Umfang die Vorläufigkeit haben soll, sind die Rechtsfolgen umstritten. In diesem Fall ist der Vorläufigkeitsvermerk nicht hinreichend bestimmt (BFH v. 30.06.1994, V R 106/91, BFH/NV 1995, 466 m. w. N.; Nieland, AO-StB 2004, 58, 63 m. w. N.) mit der Folge, dass der Steuerbescheid insgesamt nichtig ist, weil der Vermerk als unselbstständige Nebenbestimmung kein vom Bescheid trennbares rechtliches Schicksal hat und davon ausgegangen werden muss, dass das FA den Bescheid ohne die Nebenbestimmung nicht erlassen hätte (§ 125 Abs. 4 AO; h. M. in Lit.; u. a. Heuermann in HHSp, § 165 AO Rz. 28 m. w. N. bei mangelnder Bestimmtheit des Vorläufigkeitsvermerks; Rüsken in Klein, § 165 AO Rz. 33; Frotscher in Schwarz/Pahlke, § 165 AO Rz. 78 und 80; Seer in Tipke/Kruse, § 165 AO Rz. 34; von Wedelstädt in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 637 m. w. N.; a. A. Oellerich in Gosch, § 165 AO Rz. 104 m. w. N., der bei Fehlen der Angabe zum Umfang vollumfängliche Vorläufigkeit annimmt; BFH v. 12.07.2007, X R 22/05, BStBl II 2008, 2 m. w. N., der nur den Vorläufigkeitsvermerk für nichtig hält mit der Folge, dass der Steuerbescheid endgültig ist; Heuermann in HHSp, § 165 AO Rz. 29a nimmt Rechtswidrigkeit des Steuerbescheids an; aber auch s. Rz. 33). Soweit die Auslegung allerdings ergibt, dass das FA die Steuerfestsetzung unzulässigerwei...