Tz. 70
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Treu und Glauben, die ein bestehendes Steuerrechtsverhältnis voraussetzen, können ein solches nicht begründen. Der Grundsatz von Treu und Glauben bewirkt nicht, dass Rechte und Pflichten der durch ihn Gebundenen begründet werden, Steueransprüche entstehen oder erlöschen (h. M., u. a. BFH v. 30.07.1997, I R 7/97, BStBl II 1998, 33; BFH v. 06.07.2016, X R 57/13, BStBl II 2017, 334; Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 164 m. w. N.).
Tz. 71
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Der Grundsatz von Treu und Glauben wirkt vielmehr rechtsbegrenzend (BFH v. 30.07.1997, I R 7/97, BStBl II 1998, 33). Er kann lediglich ein konkretes Steuerrechtsverhältnis modifizieren und verhindern, dass eine Forderung oder ein Recht geltend gemacht werden kann, das FA also auch hindern, einen nach dem Gesetz entstandenen Steueranspruch geltend zu machen (u. a. BFH v. 19.08.1999, III R 57/98, BStBl II 2000, 330; Drüen in Tipke/Kruse, § 4 AO Rz. 128 m. w. N.). Dies kann der Stpfl. (bereits) gegenüber einer Steuerfestsetzung geltend machen; eines gesonderten Billigkeitsverfahrens bedarf es dazu nicht (BFH v. 30.03.2011, XI R 30/09, BStBl II 2011, 613 m. w. N.).
Tz. 72
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Der Grundsatz von Treu und Glauben findet auch im Verfahrens- und Prozessrecht Anwendung (dazu u. a. von Groll, FR 1995, 814, 817). So verliert ein Stpfl. die Befugnis, aus der Nichtigkeit eines Steuerverwaltungsakts abgeleitete Rechte geltend zu machen, wenn der Mangel von ihm verursacht wurde und er ihn jahrelang hingenommen hat (BFH v. 17.06.1992, X R 47/88, BStBl II 1993, 174; BFH v. 23.02.1995, VII R 51/94, BFH/NV 1995, 862); dies gilt auch für die Finanzbehörde (FG Köln v. 22.09.1994, 4 K 5642/90, EFG 1995, 240). – Hat das FA den Stpfl. durch sein Verhalten im Folgebescheidsverfahren davon abgehalten, Sonderbetriebsausgaben im Grundlagenbescheidsverfahren geltend zu machen, kann dem FA verwehrt sein, den Folgebescheid an den Grundlagenbescheid anzupassen (BFH v. 19.01.1989, IV R 2/87, BStBl II 1989, 393). Das FA darf sich nicht auf den Ablauf der Rechtsbehelfs- oder der Festsetzungsfrist berufen, wenn es den Stpfl. durch sein Verhalten davon abgehalten hat, einen Rechtsbehelf einzulegen (BFH v. 23.11.2006, V R 67/05, BStBl II 2007, 436 zur sog. Emmott’schen Fristenhemmung; auch BFH v. 14.09.1999, III R 78/97, BStBl II 2000, 37 und die Entscheidungsfälle zu § 173 AO in Rz. 67). Da sich die Frage, ob und in welchem Umfang sich ein Stpfl. gegenüber der Finanzbehörde auf den Grundsatz von Treu und Glauben berufen kann, richtet sich nach den tatsächlichen Umständen des jeweiligen Einzelfalls, sodass die Beurteilung nicht über den konkreten Fall hinausreicht; eine NZB (§ 116 Abs. 1 FGO) kann insoweit mithin nicht auf § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO (grundsätzliche Bedeutung) gestützt werden (BFH v. 09.10.2013, X B 239/12, BFH/NV 2014, 65). Dem FA ist es auch verwehrt, nach übereinstimmender Hauptsachenerledigungserklärung infolge der Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsakts einen neuen, inhaltsgleichen Verwaltungsakt zu erlassen (BFH v. 06.07.2016, X R 57/13, BStBl II 2017, 334).
Tz. 73
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Eine Rechtsanwendung, die Treu und Glauben zuwiderläuft, ist rechtswidrig (BFH v. 02.12.1959, VII 95/58 U, BStBl III 1960, 127).
Tz. 74
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Bindung nach dem Grundsatz von Treu und Glauben findet ihre Beschränkung im Prinzip der Abschnittsbesteuerung, d. h., auch gleichgelagerte Sachverhalte unterliegen in jedem Veranlagungszeitraum einer erneuten Prüfung und rechtlichen Beurteilung (u. a. BFH v. 15.03.2000, X R 56/97, BStBl II 2000, 419 m. w. N.; BFH v. 11.06.2002, IX R 79/97, BStBl II 2003, 578), sodass sich der Stpfl. nicht auf eine bestimmte steuerrechtliche Beurteilung des Sachverhalts in einem früheren Veranlagungszeitraum berufen kann. Eine als falsch erkannte Rechtsauffassung muss zum frühestmöglichen Zeitpunkt aufgegeben werden, auch wenn der Stpfl. auf diese Rechtsauffassung vertraut haben sollte und wenn er im Vertrauen darauf disponiert hat. Etwas anderes gilt nur, wenn der zuständige Amtsträger eine bestimmte Behandlung zugesagt oder die Finanzbehörde durch ihr früheres Verhalten außerhalb einer Zusage einen Vertrauenstatbestand geschaffen hat (st. Rspr., u. a. BFH v. 30.03.2011, XI R 30/09, BStBl II 2011, 613 m. w. N.).
Tz. 75
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Berufung auf den Grundsatz von Treu und Glauben ist ausgeschlossen bei Steuerbescheiden, die unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 AO) stehen, denn gerade dadurch wird signalisiert, dass die Sach- und Rechtslage noch nicht abschließend geprüft wurde und eine Prüfung noch aussteht und damit das Entstehen eines für die Bindung an Treu und Glauben notwendigen Vertrauenstatbestands verhindert; eine Ausnahme gilt nur dann, wenn das FA eine bindende Zusage erteilt oder durch sein früheres Verhalten außerhalb einer Zusage einen Vertrauenstatbestand geschaffen hat (u. a. BFH v. 09.11.2006, V R 43/04, BSt...