Tz. 1
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Vorschrift statuiert den grundsätzlichen Vorrang der Auskunftsrechte der Finanzbehörden gegenüber den Geheimhaltungspflichten von Behörden, sonstigen öffentlichen Stellen, deren Organen und Bediensteten. Die Regelung bewirkt, dass der sonst geltende Grundsatz, wonach ohne Aussagegenehmigung (s. die Beamtengesetze des Bundes und der Länder, z. B. § 67 BBG) keine Auskunft erteilt werden darf, im Besteuerungsverfahren keine Geltung hat. An seine Stelle tritt die grundsätzliche Auskunfts- und Vorlagepflicht, die durch die Möglichkeit der Untersagung eines Verlangens im Einzelfall, wenn die Auskunft oder Vorlage nach der Erklärung der zuständigen obersten Bundes- oder Landesbehörde dem Wohle des Bundes oder eines Landes erhebliche Nachteile bereiten würde, eingeschränkt wird (§ 106 AO).
Tz. 2
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Durch § 105 Abs. 1 AO angesprochen sind allgemein Behörden oder sonstige öffentliche Stellen einschließlich ihrer Organe und Bediensteten, eine Formulierung, die erkennen lässt, dass der Gesetzgeber die Vorschrift soweit wie möglich erstrecken wollte. Unter § 105 Abs. 1 AO fallen auch solche Bedienstete (Beamte usw.), deren Beschäftigungsstelle keine Behörde ist (in einzelnen Ländern z. B. Gerichtsvollzieher), ebenso Notare, soweit sie öffentliche Funktionen ausüben, sowie Berufskammern (BFH v. 19.12.2006, VII R 46/05, BStBl II 2007, 365). Diese Personen sind Organe der Staatsgewalt, die berufen sind, unter öffentlicher Autorität nach eigenem Ermessen für staatliche oder staatlich geförderte Zwecke tätig zu sein. Ob sich die Tätigkeit als hoheitliche Tätigkeit kennzeichnet, kraft deren die Behörde dem einzelnen als Obrigkeit gegenübertritt oder nicht, z. B. weil es sich um die Wahrnehmung wirtschaftlicher Belange handelt, möglicherweise im Wettbewerb mit Privatleuten, ist ohne Bedeutung. Dies wird durch die in § 105 Abs. 1 AO enthaltene Aufzählung verdeutlicht.
Tz. 3
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Allerdings gibt es auch für die Auskunfts- und Vorlagepflicht Grenzen. Denn außerhalb der AO gewährt eine Reihe von Gesetzen einen besonderen Geheimhaltungsschutz auch gegenüber der Finanzbehörde unter ausdrücklicher Ausklammerung von § 105 AO. Dies gilt z. B. auch für das Sozialgeheimnis nach § 35 Abs. 1 Satz 1 SGB I, das nach § 71 Abs. 1 Nr. 3 und 4 SGB X für Besteuerungszwecke durchbrochen werden darf. Abgesehen davon müssen auch die Finanzbehörden datenschutzrechtliche Bestimmungen, hier insb. die Vorgaben des Bundesdatenschutzgesetzes beachten.
Tz. 4
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Gemäß § 105 Abs. 2 AO darf Auskunft über Tatsachen und Verhältnisse, die dem Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis unterliegen (Art. 10 GG), nicht gefordert werden. Damit ist den Finanzbehörden grundsätzlich verwehrt, sich im Auskunftswege Kenntnisse über die Inhalte von Postsendungen zu verschaffen; es ist jedoch zweifelhaft, ob die Vorschrift heute noch von Bedeutung ist. Denn es ist mehr als zweifelhaft, ob die Deutsche Post AG nach ihrer Privatisierung noch um eine in den Anwendungsbereich der Vorschrift fallende "öffentliche Stelle" i. S. des § 105 Abs. 1 AO ist. Auf andere Anbieter privater Art (private Postzusteller und Telefongesellschaften) findet § 105 AO zweifelsfrei keine Anwendung. Für eine erweiternde Auslegung des Begriffs "sonstige öffentliche Stelle" ist angesichts des klaren öffentlich-rechtlichen Bezugs kein Raum.
Wegen der Verpflichtung der Behörden zur Auskunft usw. im finanzgerichtlichen Verfahren s. § 86 FGO.