A. Allgemeines

 

Tz. 1

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Wie die übrigen öffentlich-rechtlichen Verfahrensordnungen verwendet § 110 AO den Begriff "Wiedereinsetzung in den vorigen Stand". Abweichend von § 56 FGO beträgt die Antragsfrist bzw. die Frist zur Nachholung der versäumten Handlung einen Monat. Die Entscheidung über die Gewährung von Wiedereinsetzung betrifft allein die Frage der Fristwahrung. Sie ist grundsätzlich im Zusammenhang mit der Entscheidung über das (fristgebundene) Begehren zu treffen, bei Rechtsbehelfen also in der Rechtsbehelfsentscheidung (BFH v. 02.10.1986, IV R 39/83, BStBl II 1987, 7; BFH v. 26.10.1989, IV R 82/88, BStBl II 1990, 277). Die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand lässt den Ablauf der gesetzlichen Frist unberührt; sie bewirkt jedoch die Beseitigung der aus der Fristversäumung resultierenden Folgen.

Während die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand somit die Voraussetzung für die Möglichkeit einer sachlichen Hauptsacheregelung eröffnet, schließt die Ablehnung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zwangsläufig die materiellen Folgen der Fristversäumnis in sich ein. Sie belässt keine Möglichkeit für eine Hauptsachenregelung durch einen weiteren Verwaltungsakt, sondern tritt im Ergebnis an deren Stelle. Das materiell-rechtliche Anliegen wird also keiner Prüfung mehr unterzogen.

Die Gewährung der Wiedereinsetzung steht nicht im Ermessen der zuständigen Finanzbehörde. Liegen die materiellen Voraussetzungen für die Gewährung (§ 110 Abs. 1 Satz 1 AO) vor, so ist die Behörde zur Wiedereinsetzung verpflichtet (gebundener Verwaltungsakt).

B. Bedeutung der Vorschrift

 

Tz. 2

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Im Hinblick auf die grundgesetzlich geschützte Rechtschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) und das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) bedarf es einer Möglichkeit, Rechtsnachteile zu vermeiden, die in Folge einer unverschuldeten Fristversäumnis entstehen können. Diesem damit verfassungsrechtlich gebotenen Bedürfnis trägt die Möglichkeit der Wiedereinsetzung Rechnung, indem sie der Rechtsrichtigkeit gegenüber der Rechtssicherheit Vorrang einräumt. Dabei stellt das Gesetz zu Recht hohe Anforderungen an das Vorliegen der Wiedereinsetzungsvoraussetzungen. Den dabei in der Praxis oft festzustellenden Tendenzen der FinVerw., aber auch der Rechtsprechung, die Anforderungen zu überspannen, ist das BVerfG (v. 02.09.2002, 1 BvR 476/01, BStBl II 2002, 835) entgegengetreten. Danach ist es verwehrt, die Beschreitung des Rechtsweges und den damit verbundenen Anspruch auf die Durchsetzung materiellen Rechts durch übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften zu verkürzen. Dies bedeutet für die Wiedereinsetzung, dass deren Voraussetzungen im Zweifel so auszulegen sind, dass dem Bürger der Zugang zu einer materiell-rechtlichen Prüfung des Gerichts ermöglicht wird.

In der täglichen Praxis sind Wiedereinsetzungsanträge häufig, aber trotz der Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach großzügiger Auslegung oft erfolglos. Dabei beruht die Erfolglosigkeit oft auf dem unzureichenden Vorbringen der Wiedereinsetzungsgründe.

C. Anwendungsbereich der Vorschrift

 

Tz. 3

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Der Anwendungsbereich des § 110 AO erstreckt sich nach § 110 Abs. 1 Satz 1 AO auf alle gesetzlichen Fristen, die für Handlungen gesetzt sind, über die Finanzbehörden zu befinden haben. Dazu gehören vor allem die für außergerichtliche Rechtsbehelfe geltenden Rechtsbehelfsfristen (§ 355 Abs. 1 AO). Antragsfristen aller Art fallen unabhängig davon unter die Vorschrift, ob es sich um rechtsbehelfsähnliche Anträge handelt. Nicht maßgebend ist, ob die Frist in der AO oder in anderen Gesetzen enthalten ist. Gesetzliche Fristen, die keine Handlungsfristen sind, können nicht i. S. von § 110 Abs. 1 Satz 1 AO "eingehalten" und daher auch nicht "ohne Verschulden versäumt" werden. So fällt auch der in § 110 Abs. 2 AO befristete Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die befristete Nachholung der versäumten Handlung selbst in den Anwendungsbereich des § 110 AO ("Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzung"; s. auch BFH v. 19.08.1992, V B 27/92, BFH/NV 1993, 480). Für von einer Behörde einzuhaltende Fristen gilt § 110 AO nicht (BFH v. 19.08.1999, III R 57/98, BStBl II 2000, 330). Gleiches gilt auch für den Ablauf der für Ansprüche aus den Steuergesetzen geltenden Verjährungsfrist (§ 228 AO) oder der Festsetzungsfrist (§§ 169ff. AO; vgl. BFH v. 12.05.2009, VII R 5/08, BFH/NV 2009, 1602; BFH v. 25.02.2010, IX B 156/09, BFH/NV 2012, 176; BFH v. 24.05.2012, III R 95/08, BFH/NV 2012, 1658).

 

Tz. 4

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Zahlungsfristen sind Tathandlungsfristen spezieller Art, deren Versäumung ohne Rücksicht auf Verschuldensfragen die Konsequenz des § 240 AO (Entstehung der Säumniszuschläge) zur Folge hat; sie fallen nicht in den Anwendungsbereich von § 110 AO. Unbilligkeiten kann nach § 227 AO durch Billigkeitserlass Rechnung getragen werden. In Betracht kommt neben einer Wiedereinsetzung auch die Bewilligung von Stundung (§ 222 AO) oder Zahl...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Kühn, Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung (Schäffer-Poeschel) enthalten. Sie wollen mehr?


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