Karl Blesinger, Dr. Andreas Viertelhausen
Schrifttum
Schwöbel, Die Vertretenenhaftung nach § 70 AO. Gibt es einen neuen Anwendungsbereich der Vertretenenhaftung im Großhandel? StW 2006, 77;
Fehsenfeld, Die Reichweite der Haftung des Vertretenen nach § 70 AO, DStZ 2012, 852;
Bruschke, Haftungsfragen beim Rechnungssplitting, DStZ 2013, 831;
Gehm, Die Haftung des Vertretenen gemäß § 70 AO – Risikoprofil in der Praxis, StBp 2015, 337.
A. Bedeutung der Vorschrift
Tz. 1
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Vorschrift bewirkt eine haftungsbegründende Zurechnung fremden Verschuldens und verpflichtet zum Ausgleich entstandener Schäden. Ähnlich § 831 BGB wird ein eigenes Verschulden des Haftenden angenommen, wen er die für ihn tätigen Personen nicht ordnungsgemäß ausgewählt und überwacht hat. Die Haftung ist gerechtfertigt, wenn bei pflichtgemäßer Auswahl und Überwachung der Schaden nicht eingetreten wäre.
Tz. 2
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Haftung kommt nur dann in Betracht, wenn der Vertretene selbst nicht Steuerschuldner ist, weil sonst die Inanspruchnahme des vertretenen Steuerschuldners stets unmittelbar im Wege der Änderung bisheriger Steuerfestsetzungen oder durch Nachholungsbescheide möglich ist. Diese Einschränkung verlagert das Anwendungsgebiet der Vorschrift insbes. auf das Zoll- und Verbrauchsteuerrecht. § 70 Abs. 1 AO eröffnet den Zugriff auf den Vertretenen, dessen Interessen der Vertreter wahrgenommen hat, weil bei Nichtbeachtung der steuerrechtlichen Bestimmungen die oft hohe Steuerschuld in der Person des Vertreters entstehen kann, der jedoch nicht immer in der Lage ist, die Schuld zu begleichen (Gesetzesbegründung). Mit dem Inkrafttreten des Zollkodex zum 01.01.1994 sind diese Konstellationen, wie sie von der Vorschrift vorausgesetzt werden, kaum denkbar, weil der Kreis der Zollschuldner weiter gezogen ist.
Tz. 3
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Voraussetzungen der Vorschrift können dem Wortlaut nach auch bei den Abzugssteuern erfüllt sein (s. AEAO zu § 70), denn bei Verletzung der Einbehaltungs- und Abführungspflichten durch den gesetzlichen Vertreter wird der Vertretene nicht Steuerschuldner, die Steuerschuldnerschaft des Arbeitnehmers usw. bleibt unberührt. Auch wenn die entsprechenden Gesetze (s. §§ 42d, 44 Abs. 5, § 50a Abs. 5 Satz 4 EStG) eigene Haftungstatbestände enthalten, gehen diese § 70 AO nicht zwingend vor, weil verschiedene Regelungszwecke vorliegen (s. Rz. 1; a. A. Loose in Tipke/Kruse, § 70 AO Rz. 3). Bedeutung hat dies allenfalls für die Frage der Verjährung, die im Fall des § 70 AO länger ist (s. § 191 Abs. 3 Satz 2 AO). Im Einzelfall kann sich eine Haftung auch für Ertragsteuern ergeben, wenn z. B. ein Mitarbeiter einer Bank deren Kunden durch anonyme Kapitaltransfers hilft, Steuern zu hinterziehen. Dann kann sich die Haftung der Bank aus § 70 AO ergeben, sofern die konkrete Hinterziehungstat und der Hinterziehungsschaden nachgewiesen sind (FG Ddorf v. 18.02.2010, 8 K 4290/06 H, EFG 2010, 998; zum Problem des konkreten Verkürzungserfolgs s. § 71 AO Rz. 3; FG Münster v. 10.12.2013, 2 K 4490/12, EFG 2014, 801).
B. Haftungsvoraussetzungen und -umfang
Tz. 4
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Haftungsvoraussetzung ist, dass eine Person i. S. der §§ 34 und 35 AO bei Ausübung ihrer Obliegenheiten eine Steuerhinterziehung (s. § 370 AO) oder eine leichtfertige Steuerverkürzung (s. § 378 AO) begeht oder an einer Steuerhinterziehung teilnimmt und hierdurch Steuerschuldner oder Haftender wird. Ist der Vertretene selbst Steuerschuldner, greift § 70 Abs. 1 AO nicht ein (BFH v. 19.10.1976, VII R 63/73, BStBl II 1977, 255). Ob eine Steuerhinterziehung oder eine leichtfertige Steuerverkürzung bzw. die einschlägige Beteiligungsform gegeben sind, entscheidet selbstständig und unabhängig von der Würdigung durch die für die Strafverfolgung zuständigen Behörden und Gerichte die für die Inanspruchnahme des Haftenden zuständige Finanzbehörde (s. § 71 AO Rz. 6).
Tz. 5
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Wegen des unter §§ 34 und 35 AO fallenden Personenkreises s. die dortigen Erläuterungen sowie § 69 AO Rz. 2. Eine Haftung für Handlungen einer Person, die i. S. des § 35 AO lediglich als Verfügungsberechtigter im eigenen oder fremden Namen auftritt, kann jedoch nur insoweit in Frage kommen, als diese in Beziehung zu Obliegenheiten gehandelt hat, die ihr tatsächlich übertragen waren und die sie sich nicht lediglich angemaßt hat (BFH v. 30.11.1951, II z 148/51 U, BStBl III 1952, 16).
Tz. 6
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Steuerhinterziehung oder leichtfertige Steuerverkürzung muss in jedem Fall in unmittelbarerBeziehung zu den Obliegenheiten des Vertreters usw. begangen sein (RFH v. 08.03.1929, RFHE 25, 46), und zwar dergestalt, dass sie ohne Übertragung der Obliegenheiten nicht hätte begangen werden können (RFH v. 03.11.1939, RStBl 1939, 1118). Begehung "gelegentlich" der Wahrnehmung der Obliegenheiten, wobei diese nur den äußeren Anlass boten, genügt nicht. Es muss ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Steuerstraftat bzw. -ordnungswidrigkeit und dem sich als Ausübung der Obliegenheit darstellenden Handeln nach Ort und Zeit...