Katharina Wagner, Dr. Klaus J. Wagner
Schrifttum
S. Schrifttum zu Vor § 115 bis 134 FGO.
A. Allgemeines
Tz. 1
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Für die in ihm genannten sechs Fälle schafft § 119 FGO eine unwiderlegbare Vermutung dafür, dass das angefochtene Urteil auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 119 Abs. 1 Satz 1 FGO) beruht. Die Ursächlichkeit des Fehlers für die Entscheidung durch das Gericht wird demnach gesetzlich unterstellt. Die genannten Verfahrensfehler werden als "absolute Revisionsgründe" bezeichnet. Trifft einer der Gründe zu, so ist das Urteil in der Regel aufzuheben und an die Vorinstanz zurückzuverweisen, da eine mit schweren Verfahrensfehler behaftete Entscheidung keine Entscheidungsgrundlage für das Revisionsgericht sein kann.
Tz. 2
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Nur in seltenen Ausnahmefällen kann der BFH auch bei absoluten Revisionsgründen in der Sache selbst entscheiden. Dies ist z. B. der Fall, wenn das FG zwar unter einem Verstoß gegen einen absoluten Revisionsgrund in materieller Hinsicht über die Klage entschieden hat, aber der BFH zu der Ansicht gelangt, dass bereits die Sachentscheidungsvoraussetzungen nicht erfüllt waren und die Klage durch Prozessurteil hätte abgewiesen müssen (BFH v. 07.07.2017, V B 168/16, BFH/NV 2017, 1445). In diesem Fall wäre eine Zurückverweisung wegen des klaren Ergebnisses im zweiten Rechtsgang prozessökonomisch kaum zu rechtfertigen. Nach BFH (BFH v. 21.09.1999, IV R 40/98, BStBl II 1999, 563) soll ein "Durcherkennen" auch möglich sei, wenn unzweifelhaft feststeht, dass es zu einer Wiederholung der erstinstanzlichen Entscheidung kommt. Eine solche ergebnisbezogene Betrachtung dürfte z. B. in den Fällen der Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 119 Nr. 3 FGO) nur in Betracht kommen, wenn die tatsächlichen Feststellungen, auf die sich die Gehörsverletzung beziehen, für die angefochtene Entscheidung nicht maßgeblich, also nicht entscheidungserheblich, waren. Damit ist zugleich die Grenze bestimmt; sie ist erreicht, sobald ein Hinwegdenken des Verfahrensmangels eine andere Entscheidung als denkbar erscheinen lässt oder wenn der Betroffene keinerlei Gelegenheit hatte, sich zu dem Sachverhalt zu äußern. Gleiches gilt, wenn das FG wesentliche Angriffs- und Verteidigungsmittel übersieht oder eigenständige Ansprüche übergeht, sodass das Urteil nicht mit Gründen versehen (§ 119 Nr. 6 FGO) ist (BFH v. 10.03.1987, IX R 51/86, BFH/NV 1988, 35).
Tz. 3
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Auch wenn ein absoluter Revisionsgrund gegeben ist, kann dieser durch den BFH nur berücksichtigt werden, wenn die Revision zulässig ist, insbes. müssen die geltend gemachten Mängel innerhalb der Revisionsbegründungsfrist (s. § 120 FGO Rz. 4) schlüssig gerügt sein. Auch schwerste Verstöße entbinden nicht von der Pflicht zur Einhaltung der Zulässigkeitsvoraussetzungen der Revision. Eine schlüssige Rüge ist allerdings dann nicht erforderlich, wenn der Mangel eine von Amts wegen zu prüfende Sachentscheidungsvoraussetzung betrifft.
B. Tatbestandliche Voraussetzungen
Tz. 4
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die absoluten Revisionsgründe sind in § 119 Nr. 1 bis 6 FGO abschließend normiert, d. h. bei allen anderen Verfahrensmängeln kommt die in § 119 FGO enthaltene Vermutung, dass das Urteil auf der Verletzung des Verfahrensfehlers beruht, nicht zur Anwendung.
I. Nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts
Tz. 5
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Ausgestaltung dieses Revisionsgrundes als absolutem Revisionsgrund beruht auf dem verfassungsrechtlich verankerten (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) Verfahrensgrundrecht, dass der Einzelne Anspruch auf eine Entscheidung durch den sog. gesetzlichen Richter hat. Durch dieses Recht soll Manipulationen bei der Gerichtsbesetzung entgegengewirkt werden und damit zugleich die Unabhängigkeit der Gerichte gesichert werden. Zugleich soll das Vertrauen der Bevölkerung in Unparteilichkeit der Justiz gestärkt werden.
Tz. 6
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Das erkennende Gericht i. S. von § 119 Nr. 1 FGO ist der Spruchkörper (Senat) oder der Einzelrichter, der die angefochtene Entscheidung erlassen hat. Bei einer Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung durch den Senat gehören zum erkennenden Gericht die Berufsrichter und ehrenamtlichen Richter, die an der mündlichen Verhandlung und Beratung der Entscheidung teilgenommen haben. Werden mehrere mündliche Verhandlungen durchgeführt, ist zu unterscheiden: Grundsätzlich ist die Besetzung der letzten Verhandlung maßgeblich, wenn z. B. die Sache beim vorherigen Termin vertagt wurde (BFH v. 12.11.1993, VIII R 17/93, BFH/NV 1999, 721) oder die Beteiligten auf erneute mündliche Verhandlung verzichtet haben (BFH v. 12.05.2011, IX B 121/10, BFH/NV 2011, 1391). Dies gilt auch dann, wenn in einem vorherigen Termin eine Beweisaufnahme durchgeführt wurde (BFH v. 28.08.2010, IX B 41/10, BFH/NV 2010, 2239; BFH v. 13.01.2010, I B 83/09, BFH/NV 2010, 913 m. w. N.). Von der Vertagung ist die Unterbrechung zu unterscheiden; bei einer Unterbrechung ist der Termin (Grundsatz der Einheit der mündlichen Verhandlung) in der identischen Gerichtsbesetzung fortzuführen (auch s. § 103 Rz. 2; BFH v. 03....