Tz. 1
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die in § 66 FGO geregelte Rechtshängigkeit bedeutet das Schweben einer Rechtssache in einem auf Erlass eines Urteils gerichteten Verfahren; Anhängigkeit bedeutet Schweben jeglichen anderen gerichtlichen Verfahrens. Die Rechtshängigkeit beginnt im Finanzprozess gem. § 66 Satz 1 FGO grds. bereits mit Klageerhebung (§ 64 Abs. 1 FGO), d. h. mit Eingang der Klage beim FG und – anders als im Bereich der ZPO (dort § 253 Abs. 1 ZPO) – nicht erst mit der Zustellung der Klage. Letzteres gilt nach § 66 Satz 2 FGO nur für Entschädigungsklagen (s. Rz. 1a). Wird die Klage fristwahrend bei der Behörde angebracht (§ 47 Abs. 2 und Abs. 3 FGO), so tritt Rechtshängigkeit erst mit Eingang bei Gericht ein (BFH v. 24.09.1985, IX R 47/83, BStBl II 1986, 268; BFH v. 09.02.2001, II B 10/99, BFH/NB 2001, 935). Die Rechtshängigkeit endet durch rechtskräftiges Urteil, durch Klagerücknahme (§ 72 Abs. 1 FGO; nicht erst durch Einstellungsbeschluss nach § 72 Abs. 2 Satz 2 FGO) sowie durch übereinstimmende Hauptsachenerledigungserklärung (§ 138 FGO; nicht erst durch den Kostenbeschluss). Eine gerichtliche Entscheidung über eine Klage, die nicht rechtshängig ist, kommt nicht in Betracht (BFH v. 28.01.2010, IV B 56/08, BFH/NV 2010, 1108; BFH v. 20.08.2014, I R 43/12, BFH/NV 2015, 306; vgl. auch BFH v. 27.05.2009, X R 34/06, BFH/NV 2009, 1826; BFH v. 08.11.2016, I R 1/15, BStBl II 2017, 720: Urteil trotz fehlender Zustimmung des FA zur Sprungklage).
Tz. 1a
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Gem. § 66 Satz 2 FGO wird eine Entschädigungsklage i. S. des § 155 Satz 2 FGO i. V. m. §§ 198ff. GVG – wie im Zivilprozess (§ 253 Abs. 1 ZPO) – erst mit Zustellung der Klage rechtshängig. Damit trägt der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung, dass die Entschädigungsklage – wie der Verweis in § 155 Satz 2 FGO zeigt – eher einen dem Zivilprozess ähnlichen Charakter hat. Allerdings kommt es für die nach § 155 Satz 2 FGO i. V. m. § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG zu wahrende Klagefrist nicht auf den Eintritt der Rechtshängigkeit gem. § 66 Satz 2 FGO, sondern auf den Zeitpunkt der "Klageerhebung" an. Für die Klageerhebung ist der Zeitpunkt der formgerechten Einreichung der Klage bei Gericht (§ 64 Abs. 1 FGO) maßgeblich, während in § 253 Abs. 1 ZPO erst die Zustellung der Klageschrift an den Beklagten die Klageerhebung bewirkt (BFH v. 12.07.2017, X K 3-7/16, BStBl II 2018, 103). Die Bedeutung des § 66 Satz 2 FGO beschränkt sich im Wesentlichen auf die Hinausschiebung des Beginns des Laufs der Prozesszinsen (BFH v. 25.10.2016, X K 3/15, BFH/NV 2017, 159; s. Rz. 4) und darauf, dass der BFH als Entschädigungsgericht (§ 155 Satz 2 FGO i. V. m. § 201 Abs. 1 Satz 2 GVG) nunmehr erst nach Einzahlung des erforderlichen Gerichtskostenvorschusses tätig werden muss (BFH v. 12.07.2017, X K 3-7/16, BStBl II 2018, 103).
Tz. 2
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Dem Umfang nach bezieht sich die Rechtshängigkeit auf die Streitsache, das ist der Streitgegenstand, der Gegenstand des Klagebegehrens i. S. des § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO (s. § 65 FGO Rz. 4). Durch Klageänderung (§ 67 FGO) ändert sich zufolge Änderung des Streitgegenstands auch die Streitsache; eine Veränderung findet auch im Falle des § 68 FGO statt.
Tz. 3
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Rechtshängigkeit bewirkt eine Klagesperre bei demselben Gericht (§ 155 Satz 1 FGO i. V. m. § 17 Abs. 1 Satz 2 GVG) und bei jedem anderen Gericht (§ 70 FGO i. V. m. § 17 Abs. 1 Satz 2 GVG), d. h. die Unzulässigkeit einer neuen Klage mit dem nämlichen Streitgegenstand. Diese negative Sachentscheidungsvoraussetzung ist zwingend von Amts wegen zu berücksichtigen (s. Vor FGO Rz. 38) und führt zur Abweisung der Klage als unzulässig (BFH v. 27.06.2006, VII R 43/05, BFH/NV 2007, 396 m. w. N.) Demgegenüber soll teilweise nach der neuen Rspr. des BFH (BFH v. 26.05.2006, IV B 151/04, BFH/NV 2006, 2086) in Fällen, in denen zwei Klagen bzgl. desselben Streitgegenstands bei ein und demselben Senat eines FG erhoben wurden, das Prozesshindernis der anderweitigen Rechtshängigkeit durch Verbindung der beiden Sachen zu beseitigen sein (BFH v. 26.05.2006, IV B 151/04, BFH/NV 2006, 2086; BFH v. 18.11.2015, XI R 24-25/14, BFH/NV 2016, 418; gl. A. Paetsch in Gosch, § 66 FGO Rz. 20). Die dem zugrunde liegende Auffassung stützt sich auf eine Abwägung des Anspruchs des Klägers auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gegen den Zweck der Klagesperre. Letzterer besteht darin, unnötige Doppelarbeit der Gerichte und des Beklagten zu verhindern und der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen vorzubeugen (vgl. Brandis in Tipke/Kruse, § 66 FGO Rz. 3). Da formfehlerhafte Klagen zum Verlust des Rechtsbehelfs führen können, wenn nicht innerhalb der Klagefrist eine formgültige Klage nachgeschoben wird, soll der Gesichtspunkt der Mehrbelastung des Gerichts oder des Beklagten sowie die Gefahr divergierender Entscheidungen in den Fällen doppelter Rechtshängigkeit bei ein und demselben Senat dahinter zurücktreten (FG Mchn v. 18.12.2006, 13 K 1356/02, 13 K 10...