Tz. 1
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
§ 75 FGO stimmt inhaltlich mit § 364 AO überein. Die Vorschrift ist Ausdruck des Grundsatzes der Gewährung rechtlichen Gehörs (BFH v. 25.02.2010, V B 14/09, BFH/NV 2010, 1286; BFH v. 29.08.2013, IX B 17/13, BFH/NV 2013, 1942; Stöcker in Gosch, § 75 FGO Rz. 1.1; Thürmer in HHSp, § 75 FGO Rz. 4). Da dieser verfassungsrechtliche Grundsatz (Art. 103 Abs. 1 GG) eine einfachgesetzliche Ausprägung in § 96 Abs. 2 FGO erhalten hat, hat § 75 FGO lediglich deklaratorische Bedeutung (Seer in Tipke/Kruse, § 75 FGO Rz. 1). Zweck der Norm ist es, Überraschungsentscheidungen zu vermeiden (BFH v. 25.02.2010, V B 14/09, BFH/NV 2010, 1286; BFH v. 22.05.2007, X R 26/05, BFH/NV 2007, 1817; BFH v. 29.08.2013, IX B 17/13, BFH/NV 2013, 1942). Ob man die Vorschrift daher für überflüssig hält (so Herbert in Gräber, § 75 FGO; a. A. wohl Seer in Tipke/Kruse, § 75 FGO, Rz. 1), mag dahinstehen; jedenfalls ist die praktische Bedeutung außerordentlich gering. Vgl. im Übrigen die Erläuterungen zu s. § 364 AO.
Tz. 2
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Der Anspruch auf rechtliches Gehör besteht im Wesentlichen darin, dass den an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten Gelegenheit gegeben werden muss, sich zu den Tatsachen und Beweisergebnissen, die der gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegt werden sollen, vorher zu äußern (s. Vor FGO Rz. 61a). Das FG verstößt jedoch nur dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG i. V. m. § 96 Abs. 2 FGO bzw. § 75 FGO, wenn es einem Beteiligten Tatsachen, Beweismittel oder Beweisergebnisse vorenthält, die das Ergebnis des Verfahrens beeinflussen können (BFH v. 12.03.2004, VII B 239/02, BFH/NV 2004, 1114). Eine Verletzung von § 75 FGO liegt indessen nicht vor, wenn die der Entscheidung des FG (und der Finanzbehörde) zugrunde liegenden Besteuerungsgrundlagen dem Kläger bereits bekannt waren (BFH v. 29.08.2013, IX B 17/13, BFH/NV 2013, 1942), z. B. gerade auch dann, wenn die Besteuerungsunterlagen bereits im Einspruchsverfahren gem. § 364 AO mitgeteilt worden waren (vgl. Stöcker in Gosch, § 75 FGO Rz. 8). Abgesehen davon ist es dem Kläger grds. zumutbar, durch Akteneinsicht gem. § 78 FGO selbst Einsicht in die vom Gericht beizuziehenden Akten des Beklagten sowie in etwaige vorhandene weitere Beweismittel zu nehmen und sich ggf. gem. § 78 Abs. 2 FGO Abschriften erteilen zu lassen. Die Pflicht des FA und des Gerichts, dem Kläger nach § 75 FGO die Besteuerungsunterlagen mitzuteilen, hat den Zweck, dem Kläger die Kenntnis zu verschaffen, wogegen er sich verteidigen soll. Sie hat nicht den Zweck, ihm in Klageverfahren mit komplexen Sachverhalten, wie insbes. nach Fahndungs- und Betriebsprüfungen, die ergänzende Akteneinsicht nach § 78 FGO zu ersparen (BFH v. 25.02.2010, V B 14/09, BFH/NV 2010, 1286).