Katharina Wagner, Dr. Klaus J. Wagner
Schrifttum
Weber-Grellet, In dubio pro quo? – Zur Beweislast im Steuerrecht, StuW 1981, 48;
Martin, Wechselwirkung zwischen Mitwirkungspflichten und Untersuchungsgrundsatz im finanzgerichtlichen Verfahren, BB 1986, 1021;
Kottke, Beweislast im Besteuerungsverfahren und im Steuerprozess, Inf. 1993, 462;
Völlmeke, Überlegungen zur tatsächlichen Vermutung und zum Anscheinsbeweis im finanzgerichtlichen Verfahren, DStR 1996, 1070;
Lange, Die richterliche Überzeugung und ihre Begründung, DStZ 1997, 174;
Loschelder, Die Beweislast im finanzgerichtlichen Verfahren, AO-StB 2003, 25;
Scharpenberg, Typische Fehler im finanzgerichtlichen Verfahren vermeiden, Stbg 2008, 277;
Schaumburg, Die mündliche Verhandlung vor dem Finanzgericht, FS H. Schaumburg, 2009, 111;
Bartone, Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs im Finanzprozess, AO-StB 2011, 179;
Grube, Zum übergangenen Beweisantrag und zur gerichtlichen Hinweispflicht im Steuerprozess, DStZ 2013, 591;
Krüger, Beweiswürdigung, Beweislast und Beweismaß im Rahmen von Amtsermittlung und Mitwirkungspflicht, DStZ 2017, 761.
A. Allgemeines
Tz. 1
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Vorschrift regelt in § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO das Prinzip der freien Beweiswürdigung. Sie verpflichtet das Gericht, über die während des Verfahrens ermittelten oder anderweitig bekannt gewordenen Tatsachen nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens zu entscheiden. Anders als im Parteiprozess ist das Gericht also nicht an den Sachvortrag der Beteiligten gebunden. Die Vorschrift bezieht sich nur auf die erste Stufe der richterlichen Entscheidungsfindung, die Sachaufklärung. In der zweiten Stufe hat das Gericht auf der Grundlage des so ermittelten Sachverhalts die rechtliche Würdigung vorzunehmen. Beide Vorgänge vollziehen sich aber nicht streng hintereinander, sondern in einer ständigen Wechselwirkung, die vom jeweiligen Erkenntnisstand abhängt. § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO beschränkt die Entscheidungsbefugnis des Gerichts und trägt dem Umstand Rechnung, dass das Streitprogramm durch den rechtsschutzsuchenden Kläger bestimmt wird. § 96 Abs. 1 Satz 3 FGO statuiert eine Begründungspflicht für das Urteil.
§ 96 Abs. 2 FGO normiert den Grundsatz, dass den Beteiligten vor der Entscheidung Gelegenheit gegeben werden muss sich zu den Entscheidungserheblichen Tatsachen und Beweisergebnissen zu äußern; dies ist im Hinblick auf den Anspruch auf rechtliches Gehör eine Selbstverständlichkeit und insoweit deklaratorisch.
B. Bedeutung und Anwendungsbereich der Vorschrift
Tz. 2
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Als zentraler Beweiswürdigungsvorschrift kommt ihr hohe Bedeutung zu. Es handelt sich um eine der wesentlichen Grundlagen des finanzgerichtlichen Verfahrens. Die Vorschrift gilt entgegen ihrem Wortlaut nicht nur für Urteile (§ 95, §§ 97 bis 99 FGO), sondern auch für Gerichtsbescheide (§§ 79a Abs. 2 bis 4, § 90a FGO). Für Beschlüsse ordnet § 113 Abs. 1 FGO ausdrücklich nur die Anwendung von § 96 Abs. 1 Satz 1 und 2 FGO an. Für die Begründung von Beschlüssen enthält § 113 Abs. 2 FGO eine eigenständige Regelung. Auch wenn § 113 FGO nicht auf § 96 Abs. 2 FGO Bezug nimmt, gilt das Recht auf Gehör auch bei Beschlüssen. Auch für das Revisionsverfahren gilt § 96 FGO, wobei der BFH aber nach § 118 Abs. 2 FGO grundsätzlich an die tatsächlichen Feststellungen des FG gebunden ist (s. § 118 FGO Rz. 2). Ergänzt wird § 96 FGO im Revisionsverfahren durch §§ 124, 126 und 127 FGO hinsichtlich der Besonderheiten revisionsgerichtlicher Entscheidungen.
C. Tatbestandliche Voraussetzungen
I. Gerichtsentscheidung nach freier Überzeugung
Tz. 3
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Über den der Anwendung der Steuergesetze zugrunde zu legenden Sachverhalt – wozu nicht nur tatsächliche Verhältnisse, sondern auch rechtliche Beziehungen gehören, soweit sie Merkmale des Steuertatbestandes sind (§ 38 AO) – entscheidet das Gericht nach freier, durch bindende Regeln nicht eingeengter Überzeugung, die es aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens, d. h. dem Vorbringen der Beteiligten, der Beweisaufnahme und der mündlichen Verhandlung, gewinnt (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO). Die Vorschrift verpflichtet das FG, auch den Inhalt der ihm vorliegenden Akten (Gerichtsakten, Verwaltungsvorgänge des Finanzamts, beigezogene Akten anderer Behörden) vollständig und einwandfrei zu berücksichtigen (st. Rspr., u. a. BFH v. 06.12.1978, I R 131/75, BStBl II 1979, 162; BFH v. 16.12.2013, III S 23/13, BFH/NV 2014, 553; BFH v. 02.11.2016, V B 72/16, BFH/NV 2017, 329).
II. Rechtliches Gehör
Tz. 4
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Allerdings dürfen der Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen sich die Beteiligten hinreichend äußern konnten (rechtliches Gehör, § 96 Abs. 2 FGO; siehe die Erläuterungen zu s. § 91 AO). Das Gericht darf seine Entscheidung auf einen Gesichtspunkt, den ein Beteiligter erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, nur stützen, wenn es Gelegenheit zur Äußerung dazu gegeben hat. Dies setzt vor allem voraus, dass das Gericht entscheidungserhebliche Tatsachen, Unterlagen und Beweisangebote zur Kenntnis nimmt (BVerfG v. 05.12.1995, 1 BvR 1463/89, HFR 1996, 153; BFH v. 22.11.2012, XI B 113/11, BFH/NV 2013, 564; ...