Rz. 60
Kap. III der EU-Verordnung regelt das Kollisionsrecht. Hierbei gilt, dass das entsprechend den Regelungen der EU-Erbrechtsverordnung ermittelte Recht auch dann anzuwenden ist, wenn es nicht das Recht eines der Mitgliedstaaten ist (Art. 20 EU-ErbVO). Die Verordnung ist somit "loi uniforme". Weiterhin wird ausdrücklich klargestellt, dass Rück- und Weiterverweisungen angenommen werden (Art. 34 EU-ErbVO, siehe oben unter Rz. 46 ff.).
Ein deutscher Staatsbürger, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt und aus Sicht Kanadas auch sein Domicile zuletzt in Kanada hatte, verstirbt in Kanada. Er hinterlässt dort unter anderem ein Grundstück.
Lösung:
Auf die Rechtsnachfolge v. T. w. findet das Recht des Aufenthaltsstaates Anwendung (Art. 21 EU-ErbVO), vorliegend also das Recht Kanadas. Dieses verweist in seinen Kollisionsregelungen für unbewegliches Vermögen auf das Recht des Belegenheitsstaates des unbeweglichen Vermögens (Lex rei sitae) und damit auf das materielle Erbrecht Kanadas.
Rz. 61
Grundsatznorm für die Anknüpfung ist Art. 21 EU-ErbVO. Es wird an den gewöhnlichen Aufenthalt des EL im Zeitpunkt seines Todes angeknüpft. Ergeben sich ausnahmsweise Anhaltspunkte für eine offensichtlich andere engere Verbindung im Zeitpunkt des Todes des EL, so ist das Recht des Staates, zu dem diese engeren Verbindungen bestehen, anzuwenden.
Aus deutscher Sicht geht mit der Anwendung der EU-ErbVO eine Änderung des Anknüpfungspunktes für das Erbstatut einher. Nach der vor Anwendung der EU-ErbVO geltenden Norm des Art. 25 EGBGB wurde an das Heimatrecht des jeweiligen EL angeknüpft. Dies hatte zur Folge, dass auf den Nachlass eines beispielsweise in Frankreich lebenden und versterbenden deutschen Staatsbürgers, aus deutscher Sicht grds. deutsches Erbrecht anwendbar war.
Rz. 62
Eine Legaldefinition des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthaltes fehlt in der Verordnung. Der Begriff bedarf daher der Auslegung, die Entwicklung durch die Rechtsprechung des EuGH bzw. der nationalen Gerichte wird weiter abzuwarten sein. Die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt ist nicht ebenso klar definierbar wie die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit des EL.
Rz. 63
Wie bereits dargelegt (Rz. 17 f.), wird in der ganz überwiegenden Zahl der Erbfälle die Zuordnung zu einer einzigen Rechtsordnung ohne größere Zweifel und Auslegungsfragen möglich sein. Im Einzelfall kann die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts jedoch mit erheblichen Unsicherheiten verbunden sein. Bei zweifelhaften Fällen wird sich damit die Interpretation des Art. 21 Abs. 1 EU-ErbVO sowohl an der Auslegung des Begriffs durch den EuGH als auch an den Besonderheiten im erbrechtlichen Kontext, wie sie insb. in den Erwägungsgründen 23 und 24 zum Ausdruck kommen, orientieren.
So setzt der Erwägungsgrund 23 voraus, dass die "befasste Behörde eine Gesamtbeurteilung der Lebensumstände des EL in den Jahren vor seinem Tod und im Zeitpunkt seines Todes vorzunehmen und dabei alle relevanten Tatsachen zu berücksichtigen" hat. Unter Berücksichtigung der spezifisch erbrechtlichen Ziele der Verordnung habe sich daraus eine "besonders enge und feste Bindung zu dem betreffenden Staat" zu ergeben (s. Rz. 19).
Rz. 64
Der gewöhnliche Aufenthalt ist damit anhand aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls zu ermitteln, wobei hierbei maßgeblich die körperliche Anwesenheit in einem Mitgliedstaat zu berücksichtigen ist. Weitere Faktoren, die indizieren können, dass es sich nicht nur um einen vorübergehenden Aufenthalt handelt, sind die Integration in ein soziales und familiäres Umfeld, die Staatsangehörigkeit, die geografische und familiäre Herkunft, Sprachkenntnisse, die Gründe für den Umzug bzw. Aufenthalt in dem Staat sowie Dauer, Regelmäßigkeit und Umstände des Aufenthalts. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um abschließende Faktoren, sodass im Einzelfall weitere Indizien herangezogen werden können.
Besondere Bedeutung kommt zunächst der "Dauer und Regelmäßigkeit des Aufenthalts" i. S. einer körperlichen Anwesenheit zu. Ohne zumindest zeitweisen Aufenthalt in einem Land, der in gewisser Weise verstetigt ist, kann nie ein neuer "gewöhnlicher Aufenthalt" entstehen. Jedoch schließt die vollständige Aufgabe des Wohnsitzes in einem Land nicht aus, dass dort noch der gewöhnliche Aufenthalt verhaftet bleibt, solange noch nicht ein neuer gewöhnlicher Aufenthalt in einem anderen Land begründet wurde. Ein Aufenthalt wird auch dann nicht dauerhaft und regelmäßig sein, wenn er einen nur relativ kurzen Zeitraum umfasst, der von vornherein festgelegt ist (z. B. Urlaubsaufenthalte, Praktika, Auslandssemester bei Studenten). Regelmäßig wird man dabei davon ausgehen, dass ein Aufenthalt zumindest sechs Monate, wenn nicht gar ein oder mehrere Jahre gedauert haben muss, bevor er die Kriterien eines gewöhnlichen Aufenthalts erfüllt. Die EU-ErbVO sieht aber ausdrücklich keine zeitliche Mindestfrist vor, sodass ein gewöhnlicher Aufenthalt auch durch weitere Merkmale gerechtfertigt sein kann, die von der Dauer unabhän...