Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Preißer
Rz. 189
Auch der EuGH hat in den letzten Jahren das deutsche ErbStG unter die Lupe genommen und in diesem Zusammenhang in erster Linie zu Fragen der Niederlassungsfreiheit gem. Art. 49, 54 AEUV sowie der Kapitalverkehrsfreiheit gem. Art. 63 AEUV geurteilt. Dies beruht auch auf der Tatsache, dass nunmehr die Rechtsprechung deutlich kritischer mit der Vereinbarkeit von deutschen Gesetzen mit den europäischen Grundfreiheiten umgeht. In der Vergangenheit wurde oftmals gar ein Konnex zwischen dem Europarecht und dem Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht bezweifelt (Dautenberg/Brüggemann, BB 1997, 123).
Rz. 190
Ob die erweitert unbeschränkte Steuerpflicht der europarechtlichen Niederlassungsfreiheit entgegensteht, war Gegenstand der Entscheidung in der Rechtssache van Hilten (EuGH vom 23.02.2006, IStR 2006, 309). So wurde argumentiert, dass die Niederlassungsfreiheit dadurch beschränkt wird, dass durch die "nachhängende" Besteuerung des Wegzugsstaats nicht von der niedrigeren Steuerbelastung im Zuzugsstaat profitiert werden kann. Der EuGH hat infolgedessen die Steuer des Zuzugsstaates angerechnet.
Rz. 191
Im Grundsatz hat der EuGH jedoch klargestellt, dass eine Harmonisierung der Steuersysteme der Mitgliedstaaten nicht erforderlich ist. Trotz nationaler Regelungen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung, z.B. in § 21 ErbStG, besteht keine zwingende Europarechtswidrigkeit, wenn noch eine Doppelbesteuerung verbleibt (EuGH vom 12.02.2009, DStR 2009, 373). Die EU-Kommission hat im Jahr 2012 eine Empfehlung abgegeben, wie bilaterale Doppelbesteuerungen vermieden werden können (Kaminski, Stbg 2013, 10; Ihle, ZEV 2012, 173).
Rz. 192
Eine Vielzahl von Entscheidungen des EuGH betrifft die Gebietsausländerdiskriminierung von beschränkt Steuerpflichtigen im Vergleich zu unbeschränkt Steuerpflichtigen. So wurde im Fall Erben H. Barbier (EuGH vom 11.12.2003, DStRE 2004, 93; vgl. hierzu Schnitger, FR 2004, 187; Wachter, DStR 2003, 540) der Ausschluss des Schuldenabzugs bei beschränkt Steuerpflichtigen als europarechtswidrig verboten.
Rz. 193
Auch der Freibetrag von beschränkt Steuerpflichtigen in § 16 Abs. 2 ErbStG i.H.v. 2.000 EUR wurde als europarechtswidrig verworfen (EuGH vom 22.04.2010, Mattner, DStR 2010, 861; vgl. im Einzelnen Thömmes, IWB 2010, 373). Nach Auffassung des EuGH rechtfertigt die beschränkte Steuerpflicht nicht, dass aufgrund eines teilweisen Erwerbs ein deutlich geringerer Freibetrag gewährt wird.
Rz. 194
Des Weiteren hat der EuGH die Höherbewertung ausländischen Vermögens (im Urteilsfall: land- und forstwirtschaftliches Vermögen in einem anderen Mitgliedstaat) mit dem gemeinen Wert i. S. des § 31 BewG im Vergleich zu speziellen inländischen Bewertungsvorschriften als Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 Abs. 1 AEUV) angesehen (EuGH vom 17.01.2008, Jäger, BFH/NV 2008, 116). Ferner hat der EuGH (vom 02.10.2008, Bauer, IStR 2008, 773) die Höherbewertung ausländischer Personengesellschaften in der EU im Vergleich zu einer inländischen Personengesellschaft als nicht mit EU-Recht vereinbar angesehen.
Rz. 195
Vor dem Hintergrund einer Gleichstellung von im EU-/EWR-Raum belegenen Vermögens hinsichtlich sachlicher Steuerbefreiungen wurden ab dem 1. Januar 2009 die Steuerbefreiungen in §§ 13 ff. ErbStG auf den gesamten EU-/EWR-Raum ausgedehnt. Der EuGH (vom 19.07.2012, Scheunemann, DStR 2012, 1508) hält jedoch eine Begünstigung von in Drittstaaten belegenem unternehmerischen Vermögen mit Einfluss auf die Gesellschaft nicht für geboten, da in diesen Fällen die Niederlassungsfreiheit die Kapitalverkehrsfreiheit verdrängt und Ersterer eine Drittwirkung fehlt.
Rz. 196
Die Beschränkung des persönlichen Freibetrags im Falle der beschränkten Steuerpflicht ist auch gegenüber Drittstaaten unzulässig, weil die Kapitalverkehrsfreiheit unbestritten Drittwirkung hat (EuGH vom 17.10.2013, Welte, DStR 2013, 2269). Die hierauf ergangene Regelung des § 2 Abs. 3 ErbStG war wiederum europarechtswidrig (EuGH vom 08.06.2016, Hünnebeck, DStR 2016, 1360). Der Gesetzgeber reagierte hierauf mit dem StUmgBG (BGBl I 2017, 1682) für Fälle der Steuerentstehung nach dem 24. Juni 2017.
Rz. 197
Auch die Regelung des Versorgungsfreibetrags (§ 17 ErbStG) wurde durch das StUmgBG nach einem Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission gegen Deutschland rückwirkend auch in Fällen der beschränkten Steuerpflicht angepasst. Nicht beanstandet wurde hingegen die Ausgestaltung des § 27 ErbStG, der für Zwecke der Mehrfachermäßigung eine Steuer nach dem deutschen ErbStG bedingt (EuGH vom 30.06.2016, Feilen, IStR 2016, 115).
Rz. 198
Weitere Vorschriften des deutschen ErbStG könnten bald auf dem Prüfstand stehen: So ist fraglich, ob die tarifliche Schlechterstellung ausländischer Familienstiftungen hält. Gleiches gilt für den Umstand, dass Kontenguthaben nur dann in das EU-/EWR-Ausland transferiert werden dürfen, nachdem eine Unbedenklichkeitsbescheinigung erteilt wurde, zumal Luxemburg durch die EU-Kommission aufgefordert wurde, auf das Verlangen einer Siche...