Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Preißer
Rz. 52
Eine gänzlich andere Situation liegt, ohne dass dies in der Diskussion immer verdeutlicht wird, bei der Frage des Übergangs von Steuermerkmalen ohne Bezug zu einem (zivilrechtlichen) Kompetenzobjekt vor. Von herausragender, wenngleich nicht ausschließlicher Bedeutung ist hier der vom Erblasser nicht verbrauchte Verlustabzug bzw. Verlustausgleich.
Das neue hier präsentierte Konzept kann erst verstanden werden, wenn die aktuelle Rechtslage nachgezeichnet wird.
Rz. 53
a) Entwicklung der Rechtsprechung
Als Ausfluss der individuellen Leistungsfähigkeit sind Verluste nie durch Einzelrechtsnachfolge übertragbar (keine Disposition über Steuergrößen); s. R 10d Abs. 4 EStR 2016. Neben der Ehegattenverlustverrechnung wurde von der Verwaltung als einzige Ausnahme von dem Grundsatz, dass Verlusterzieler und -verrechner identisch sein müssen, die Übertragung nicht ausgenutzter Verluste vom Erblasser auf den Erben zugelassen (s. H 10d "Verlustabzug im Erbfalle" EStH 2005). Der BFH – und ihm folgend a. a. O. die Verwaltung hat seit 1962, in Abkehr von der Rechtsprechung des RFH (dieser rechnete den Verlustabzug der Person zu, die den Verlust erlitten hat, s. RFH vom 07.11.1934, StuW 1935, Teil II, Sp. 47), einen Verlusttransfer vom Erblasser (EL) auf den Erben (E) in dem Maße zugelassen, in dem der EL den Verlust noch hätte geltend machen können (vgl. BFH vom 15.03.1962, HFR 1063, 8 sowie BFH vom 22.06.1962, BStBl III 1962, 386).
Rz. 54
Die Unvereinbarkeit dieser (von der Verwaltung übernommenen) Rspr. mit dem Individualbesteuerungsgrundsatz führte in einer ersten Entscheidung des XI. Senats des BFH vom 05.05.1999 (BStBl II 1999, 653) zu der Erkenntnis, dass ein Verlustübergang des EL auf E nur dann möglich sei, wenn der Erbe durch die ererbten Verluste auch wirtschaftlich belastet sei, m.a.W. er sie auch tragen müsse. Haftet demnach der Erbe nur beschränkt (z. B. bei einem Nachlassinsolvenzverfahren), ist er nicht zur Verrechnung der EL-Verluste in seiner Veranlagung berechtigt.
Rz. 55
Noch einen Schritt weiter geht die BFH-Anfrage vom 29.03.2000 (HFR 2000, 796, I. Senat), nach der generell die Verlustübertragung abgelehnt wird. Dies gilt insbesondere für den Verlustvortrag, der wegen der "Höchstpersönlichkeit" einen Fremdkörper in der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit darstellt. Allenfalls qua Billigkeitsmaßnahmen (s. § 163 AO und § 227 AO) könne in Härtefällen abgeholfen werden.
Rz. 56
Mit dem Urteil vom 16.05.2001 (BStBl II 2002, 438) und dem BMF-Schreiben vom 26.07.2002 (BStBl I 2002, 667) ist die geänderte Rechtsprechung vorläufig amtlich bestätigt worden: Danach liegt eine – den Verlustübergang ausschließende – wirtschaftliche Belastung dann nicht vor, wenn der Erbe für Nachlassverbindlichkeiten gar nicht oder nur beschränkt haftet. Die weiter gehenden Ansätze, die sich aus dem Leistungsfähigkeitsgrundsatz aufgedrängt haben, sind in dieser Entscheidung nicht verfolgt worden. Sie sind aber vom XI. Senat in seinem Vorlagebeschluss (s. BFH vom 10.04.2003, BStBl II 2004, 400) angemahnt worden; der in diesem Beschluss beabsichtigten Rechtsprechungsänderung haben der I. Senat (s. BFH vom 22.10.2003, BStBl II 2004, 414) und auch der VIII. Senat nicht zugestimmt. Aufgrund dieser Uneinigkeit hat der XI. Senat des BFH den Großen Senat angerufen, um klären zu lassen, ob der Erbe einen vom Erblasser nicht ausgenutzten Verlust bei seiner Einkommensveranlagung geltend machen kann (s. BFH vom 28.07.2004, NJW 2005, 704; BFH-Verfahren; GrS 2/04). In dem Vorlageverfahren hat auch das BMF seine Auffassung geändert: Die bisherige, auch von der Verwaltung gebilligte Rechtsprechung solle aufgegeben werden.
Der Große Senat des BFH hat mit Beschluss vom 17.12.2007 (BFH/NV 2008, 651) die bis dahin geltende Rechtsprechung zur Vererblichkeit des Verlustabzugs nach § 10d EStG aufgegeben.
Rz. 57
Der Große Senat gelangte zu der Auffassung, dass der Übergang des Verlustabzugs vom Erblasser auf den Erben weder auf zivilrechtliche noch auf steuerrechtliche Vorschriften und Prinzipien gestützt werden kann. Das Prinzip der Gesamtrechtsnachfolge (s. § 1922 BGB) erstreckt sich auch auf das Steuerrecht. So regelt § 45 AO, dass bei der Gesamtrechtsnachfolge die Forderungen und Schulden aus dem Steuerschuldverhältnis auf den Rechtsnachfolger übergehen. Die Frage, ob der Erbe sowohl in materieller als auch verfahrensrechtlicher Hinsicht in die abgabenrechtliche Stellung des Erblassers eintrete, kann – so der Große Senat – offen bleiben. Jedenfalls besteht Einigkeit darüber, dass höchstpersönliche Verhältnisse und unlösbar mit der Person des Rechtsvorgängers verknüpfte Umstände nicht auf den Gesamtrechtsnachfolger übergehen. Dies folgt aus der Auslegung des § 10d EStG sowie der das Einkommensteuerrecht beherrschenden Prinzipien.
Rz. 58
§ 10d EStG ermöglicht dem Steuerpflichtigen eine interperiodische Verlustverrechnung und mildert damit das dem EStG zugrunde liegende Prinzip der Abschnittsbesteuerung (s. § 25 EStG). Der Verlustvortrag (nicht...