Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Preißer
Rz. 134
Nach den Erfahrungen der Nachlassgerichte und Erbschaftsteuerstellen der Finanzämter sind etwa 80 % aller Testamente sog. "Berliner Testamente", mit denen sich Ehegatten gegenseitig zu Erben einsetzen und nach dem Tode beider Ehegatten die Kinder Erben sein sollen. Bei vielen Ehegatten bleibt es allerdings – wegen nicht eingehaltener Formvorschriften – beim Versuch; manche wiederum bereuen später ein bereits errichtetes formgültiges erstes Ehegattentestament.
Rz. 135
Bei den folgenden Ausführungen wird eine Grundaussage beim Berliner Testament gem. § 2269 BGB unterstellt, die im Einzelfall erst bewiesen werden muss. Das Berliner Testament mit den aufgezeigten Bindungswirkungen für die Ehegatten untereinander und der begrifflichen Enterbung der Kinder im ersten Erbfall gehen vom sog. "Einheitsprinzip" aus, wonach die testierenden Ehegatten ihr (zivilrechtlich getrenntes) Vermögen erbrechtlich als Einheit begreifen. Dies unterstellt, dass die Einheitstheorie (besser: Ehegatten mit dem Willen zum Berliner Testament) davon ausgeht, dass die Kinder nur dann Erben werden, falls sie den letztversterbenden Ehegatten überleben.
Rz. 136
Anderenfalls gilt die Trennungstheorie, wonach die Ehegatten ihr jeweiliges Vermögen auch erbrechtlich isoliert behandeln mit der Folge, dass bzgl. des Nachlasses des vorversterbenden Ehegatten Vorerbschaft des überlebenden Ehegatten (und Nacherbschaft der Kinder) eintritt und der überlebende Ehegatte hinsichtlich seines Vermögens wieder frei testieren (d. h. auch widerrufen) kann. Führt die juristische Auslegung zu keinem eindeutigen Ergebnis – und dies gilt im Zweifel erst recht für die steuerliche Wertung – spricht die gesetzliche Vermutung (s. § 2269 Abs. 1 BGB: "… im Zweifel") für das Berliner Testament.
Rz. 137
Das Erbrecht kommt den Ehegatten bei der Abfassung des Berliner Testaments sowohl mit einer Formerleichterung als auch mit einer gesetzlichen Vorwegnahme ("Vorformulierung") des gemeinsamen Erblasserwunsches entgegen; zum Berliner Testament s. § 6 Rn. 73 ff.
Grundfall
Aus der Ehe von P und B sind zwei Söhne hervorgegangen. Im Jahre 00 versuchen sie sich an einem gemeinschaftlichen Testament, mit dem sie sich gegenseitig zu Erben des vorversterbenden Ehegatten und die Söhne zu Erben des Längstlebenden einsetzen wollen. Und dies geschieht so: P setzt auf einem eigenhändig geschriebenen und auch unterschriebenen Papier B zur Alleinerbin und die Söhne zu Schlusserben ein. Ähnlich verfährt B: Alleinerbeneinsetzung des P und Schlusserbeneinsetzung der Kinder. Danach tauschen B und P die Durchschriften der jeweiligen Testamente aus und jeder bewahrt sein Original und die ihn begünstigende Ehegatten-Blaupause auf. Die Söhne möchten wissen, ob sie nach dem Ableben von P in 02 enterbt sind oder zusammen mit ihrer Mutter als gesetzliche Erben eine Erbengemeinschaft bilden.
Lösung:
Die beabsichtigten Rechtsfolgen des Berliner Testaments nach § 2269 BGB treten ein, wenn die Ehegatten B/P formwirksam in 00 ein gemeinschaftliches Testament mit dem dortigen Regelungsgehalt errichtet hätten. Sodann wären die Söhne im ersten Erbgang in 02 enterbt und auf das Warten (zweiter Erbgang) bzw. auf Pflichtteilsansprüche (gegen die Mutter) angewiesen. Falls sich die Eheleute keinem Notar anvertrauen (öffentliches Testament), erleichtert § 2267 BGB die sonstige Formstrenge und lässt beim eigenhändigen Berliner Testament die Handschrift eines Ehegatten genügen, wenn dieses Papier von beiden Ehegatten unterzeichnet ist. Im konkreten Fall handelt es sich nicht um ein vom BGB vorgesehenes Berliner Testament; es liegen vielmehr zwei einseitige, jeweils eigenhändig errichtete Testamente nach § 2247 BGB vor. Nach derzeit h. M. werden auch getrennte Erklärungen von Ehegatten zu einem gemeinschaftlichen Ehegattentestament zusammengefasst, wenn der gemeinschaftliche Wille aus der Urkunde ersichtlich ist (str., s. aber Weidlich in Grüneberg, § 2267, Rn. 2 m. w. N.). Das Testament von P führt zur Alleinerbeneinsetzung von B und zur Enterbung der Söhne.
Richtige Probleme beim Berliner Testament treten jedoch in der Praxis häufig erst nach der Errichtung auf.
Folgeproblem I
Bei ansonsten identischem Sachverhalt (Beispiel 1) trennt sich P in 01 nach 50-jähriger Ehe von B und er widerruft gleichzeitig die in 00 getroffene Regelung, in dem er seinen neuen Freund W zum Alleinerben einsetzt.
Lösung:
Ein wirksamer Widerruf zu Lebzeiten setzt nach § 2271 Abs. 1 Satz 1 BGB i. V. m. § 2296 BGB (hierzu aktuell LG München vom 30.06.2008, ZEV 2008, 537) eine notarielle Erklärung gegenüber dem anderen Ehegatten voraus; ein einseitiger Widerruf vermag dies nicht zu ersetzen. Fraglich ist, ob diese Schutzvorschrift auch dann greift, wenn – wie hier – zwei einseitige letztwillige Verfügungen vorliegen.
Wegen der identischen Schlusserbeneinsetzung in beiden Testamenten ist – trotz § 2267 BGB – auch in diesem Fall von § 2271 BGB auszugehen. Die spätere Erbeinsetzung von W war unwirksam. Es bleibt bei der...