Rz. 13

Die vorbestimmten Typisierungen im vereinfachten Ertragswertverfahren können dazu führen, dass bei der Anwendung des Verfahrens das ermittelte Ergebnis von dem gemeinen Wert abweicht (s. R B 199.1 Abs. 3 Satz 1 ErbStR). Nach § 199 Abs. 1 und 2 BewG besteht für den Steuerpflichtigen ein Wahlrecht, das vereinfachte Ertragswertverfahren anzuwenden. Gesetzliche Tatbestandsvoraussetzung hierfür ist, dass dies nicht zu offensichtlich unzutreffenden Ergebnissen führt. Hat das FA an der Anwendbarkeit des vereinfachten Ertragswertverfahrens Zweifel, so sind diese vom FA substantiiert darzulegen und dem Steuerpflichtigen Gelegenheit zu geben, die Bedenken des FA auszuräumen. 

 

Rz. 14

Erkenntnisse über eine offensichtlich unzutreffende Wertermittlung zum gemeinen Wert können nach Auffassung der FinVerw bspw. in den nachstehenden Fällen hergeleitet werden (s. R B 199.1 Abs. 5 ErbStR):

  1. bei Vorliegen zeitnaher Verkäufe, wenn diese nach dem Bewertungsstichtag liegen;
  2. bei Vorliegen von Verkäufen, die mehr als ein Jahr vor dem Bewertungsstichtag liegen;
  3. bei Erbauseinandersetzungen, bei denen die Verteilung der Erbmasse Rückschlüsse auf den gemeinen Wert zulässt.

Nach R B 199.1 Abs. 4 ErbStR trägt das FA die Feststellungslast für die Ermittlung eines abweichenden Werts, wenn es von dem im vereinfachten Ertragswertverfahren ermittelten Wert abweichen will.

 

Rz. 15

Muss also das FA z. B. im Fall eines offensichtlich unzutreffenden Ertragswerts bei Verkauf nach dem Bewertungsstichtag ein "echtes" Ertragswertverfahren anwenden, um den gemeinen Wert des Einzelunternehmens bestimmen zu können, oder kann es von dem Verkaufswert ausgehend den gemeinen Wert zum Bewertungsstichtag ableiten? Der Verkaufswert nach dem Bewertungsstichtag verbietet lediglich die Anwendung des vereinfachten Ertragswertverfahrens, er darf jedoch wegen des Stichtagsprinzips selbst nicht zugrunde gelegt werden. U.E. kann das FA jedoch in diesen Fällen – durch eine gesetzestreue Interpretation – nur auf ein ertragswertorientiertes branchentypisches Bewertungsverfahren zurückgreifen (das es wohl vom Steuerpflichtigen einfordert), um den offensichtlich zutreffenden Wert zum Bewertungsstichtag zu bestimmen (s. Eisele, NWB 2011, 2782). 

 

Rz. 16

Die FinVerw nennt lediglich Beispiele, aus denen Erkenntnisse für eine offensichtlich unzutreffende Besteuerung gewonnen werden können. Dem Praktiker fehlen jedoch "handfeste" Parameter, nach denen ein offensichtlich unzutreffender Wert gegeben sein soll. Mannek (DB 2008, 423 ff.) geht erst bei einer Wertabweichung von 50 % davon aus, während Rohde/Gemeinhardt (StuB 2008, 338 ff.) bereits eine Abweichung von 20 bis 25 % als erheblich bezeichnen. Generell ist hierbei zu beachten, dass sich ggf. Veränderungen ergeben haben, die diese Wertabweichung gegenüber dem Bewertungsstichtag rechtfertigen, sodass eine prozentuale Wertabweichung nicht das alleinige Kriterium sein kann. Zudem sind betriebswirtschaftliche Unternehmensbewertungen auch mit Unsicherheitsfaktoren verbunden, sodass hier, dem gesetzgeberischen Vereinfachungswillen folgend, ein gewisser Toleranzbereich gelten sollte. Auch ist nicht geklärt, welcher Zeitraum herangezogen werden kann, wenn R B 199.1 Abs. 5 Nr. 1 ErbStR von "zeitnahen Verkäufen, nach dem Bewertungsstichtag" spricht. 

 

Rz. 17

Begründete Zweifel daran, dass das vereinfachte Ertragswertverfahren zu zutreffenden Ergebnissen führt, bestehen nach Ansicht der FinVerw insb. in folgenden Fällen (s. verschärfend R B 199.1 Abs. 6 ErbStR):

  1. bei komplexen Strukturen von verbundenen Unternehmen. Aus den entsprechenden Richtlinien geht jedoch nicht hervor, wann es sich um ein Unternehmen mit komplexen Strukturen handelt. Vermutlich geht die FinVerw davon aus, dass das Verfahren tendenziell dann zu offensichtlich unzutreffenden Ergebnissen führt, wenn das zu bewertende Unternehmen eine gewisse Größenordnung überschreitet und daher regelmäßig über "komplexe Strukturen" verfügt (s. Mannek in S/L, § 199 Rz. 109). Die Strukturen kleinerer Unternehmen sind annahmegemäß weitgehend miteinander vergleichbar und daher auch nach vereinfachten Kriterien beurteilbar und bewertbar. Für größere Unternehmen sind typischerweise komplexe Beteiligungsstrukturen notwendig, um verschiedene Märkte zu erschließen und unterschiedliche Ertragssituationen ausnutzen, weshalb man grds. nicht von einer Vergleichbarkeit ausgehen kann. Ausnahmsweise kann durch das vereinfachte Ertragswertverfahren auch in dieser Größenordnung (Unternehmen mit komplexen Strukturen) das zutreffende Ergebnis ermittelt werden. Es ist dennoch davon auszugehen, dass die FinVerw die Anwendbarkeit des vereinfachten Ertragswertverfahren ablehnen wird (s. Mannek in S/L, § 199 Rz. 110).

    In den Erbschaftsteuerrichtlinien wird der Begriff "komplexe Strukturen" nicht näher eingegrenzt. Fraglich ist, ob komplexe Strukturen gegeben sind, wenn ein Unternehmen eine Vielzahl von unmittelbaren und mittelbaren Beteiligungen an anderen Gesellschaften hält und sich insoweit ein verzweigte...

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