Dipl.-Finanzwirt Jörg Ramb
3.2.1 Überblick
Rz. 14
3.2.2 Freibeträge für Kinder, Enkel und Urenkel
Rz. 15
Nach § 16 Abs. 1 ErbStG bleibt steuerfrei in den Fällen der unbeschränkten Steuerpflicht der Erwerb der Kinder i. S. d. Steuerklasse I Nr. 2 und der Kinder verstorbener Kinder i. S. d. Steuerklasse I Nr. 2 i. H. v. 400.000 EUR (Nr. 2), der Erwerb der Kinder der Kinder i. S. d. Steuerklasse I Nr. 2 i. H. v. 200.000 EUR (Nr. 3) sowie der übrigen Personen der Steuerklasse I i. H. v. 100.000 EUR (Nr. 4). Nach § 15 Abs. 1 ErbStG gilt die Steuerklasse I u. a. für "die Kinder und Stiefkinder" (Nr. 2) sowie für "die Abkömmlinge der in Nr. 2 genannten Kinder und Stiefkinder" (Nr. 3).
Nach Wortlaut und Systematik des Gesetzes meint der Begriff "Kinder" in § 16 Abs. 1 ErbStG eindeutig nicht Kindeskinder oder weitere Abkömmlinge, sondern Kinder. Das gilt im Falle des § 16 Abs. 1 Nr. 3 ErbStG auch für die doppelte Verwendung des Wortes "Kinder", so dass "Kinder der Kinder" ausschließlich die Enkel, nicht die Urenkel sind. Soweit § 16 Abs. 1 ErbStG drei Mal (zwei Mal in Nr. 2, einmal in Nr. 3) die Wendung "Kinder im Sinne der Steuerklasse I Nr. 2" verwendet, ist dies nicht anders denkbar. Kinder in diesem Sinne sind die Kinder und Stiefkinder. Letztere sind der tragende Grund dafür, im Rahmen von § 16 Abs. 1 ErbStG nicht allein von Kindern, sondern von Kindern i. S. d. Steuerklasse I Nr. 2 zu sprechen. Kindeskinder oder weitere Abkömmlinge können in dieser Wendung mit dem Begriff "Kinder" nicht gemeint sein, da diese die Steuerklasse I nicht auf der Grundlage des § 15 Abs. 1 Steuerklasse I Nr. 2 ErbStG, sondern auf der Grundlage des § 15 Abs. 1 Steuerklasse I Nr. 3 ErbStG erhalten. Andernfalls liefe die zuletzt genannte Vorschrift leer.
Aus ähnlichen Gründen ist es aber auch ausgeschlossen, den in der Wendung "Kinder der Kinder" in § 16 Abs. 1 Nr. 3 ErbStG an erster Stelle benutzten Begriff "Kinder" nicht im ursprünglichen Sinne des Wortes, sondern als "Kindeskinder" oder "Abkömmlinge" o. Ä. zu verstehen. Abgesehen von der Frage, ob das unterschiedliche Verständnis desselben, kurz nacheinander zwei Mal benutzten Begriffes noch vertretbar sein kann, zeigt die Differenzierung in § 15 Abs. 1 Steuerklasse I ErbStG zwischen Nr. 2 (Kinder) und Nr. 3 (Abkömmlinge der in Nr. 2 genannten Kinder), dass der Gesetzgeber den Begriff "Kinder" zielgenau eingesetzt hat. Meinte er sämtliche nachfolgenden Generationen in direkter Linie, hat er den Begriff der Abkömmlinge genutzt; meinte er lediglich die Kinder der Kinder, hat er dies so formuliert. Es ist kein gesetzestechnischer Anknüpfungspunkt dafür ersichtlich, dem Begriff "Kinder" punktuell ein anderes Verständnis beizulegen.
§ 16 Abs. 1 ErbStG differenziert zwischen verschiedenen Erwerbergruppen trotz gleicher Steuerklasse ausdrücklich, und zwar insb. auch zwischen verschiedenen Gruppen von Abkömmlingen. Das wird bereits an der Unterscheidung zwischen § 16 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG und § 16 Abs. 1 Nr. 3 ErbStG augenfällig. Dies zeigt, dass nichts Grundsätzliches dagegen spricht, eine weitere Differenzierung vorzunehmen, also bestimmten Abkömmlingen auch nicht den Freibetrag des § 16 Abs. 1 Nr. 3 ErbStG, sondern nur des § 16 Abs. 1 Nr. 4 ErbStG zuzubilligen.
Die Freibeträge nach § 16 Abs. 1 Nr. 2 bis 4 ErbStG beruhen auf dem typisierten Grundmodell, dass jede Generation jeweils zwei Kinder hat, was die Verdoppelung der Anzahl der Abkömmlinge in jeweils einer Generation zur Folge hat. Dies erklärt die Halbierung des Freibetrags von § 16 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG (für die Kinder) zu § 16 Abs. 1 Nr. 3 ErbStG (wenigstens für die Enkelkinder), denn bei zwei Kindern sind nach diesem Modell typischerweise vier Enkelkinder vorhanden. Auf diesem Modell beruht etwa auch die Berechnung des Freibetrags in den Fällen des § 15 Abs. 2 Satz 3 ErbStG. Vor diesem Hintergrund ist es folgerichtig und systemgerecht, wenn sich die weitere Halbierung des Freibetrags nach § 16 Abs. 1 Nr. 3 ErbStG in § 16 Abs. 1 Nr. 4 ErbStG mit einem weiteren Schritt in der Generationenfolge deckt. Mit dem Übergang von der Generation der Enkel zur Generation der Urenkel verdoppelt sich wiederum die Anzahl der potenziell Begünstigten, denn bei vier Enkelkindern sind nach diesem Modell typischerweise acht Urenkel vorhanden.
Rz. 16
In seinem Beschluss vom 27.07.2020 (II B 39/20 [AdV], BStBl II 2021, 28) befasste sich der BFH mit dem Freibetrag für Urenkel. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Urenkel jedenfalls dann lediglich der Freibetrag i. H. v. 100.000 EUR nach § 16 Abs. 1 Nr. 4 ErbStG zusteht, wenn Eltern und Großeltern noch nicht vorverstorben sind. Eine Urgroßmutter schenkte ihren beiden Urenkeln eine Immobilie. Ihre Tochter (Großmutter der Urenkel) erhielt hieran einen Nießbrauch. Die Urenkel machten die Freibeträge von 200.000 EUR für "Kinder der Kinder" nach § 16 Abs. 1 Nr. 3 ErbStG geltend, während das FA und auch das FG ihnen lediglich Freibeträge von 100.000 EUR nach § 16 Abs. 1 Nr. 4 ErbStG zubilligten, die das Gesetz für "Abkömmlinge der Kinder" vorsieht.
Begründung: Es bestehen keine ernstlichen Zweifel, dass für den Er...