Dipl.-Finanzwirt Jörg Ramb
Rz. 62
Nach den Erfahrungen der Nachlassgerichte und Erbschaftsteuerstellen der Finanzämter sind etwa 80 % aller Testamente sog. Berliner Testamente, mit denen sich Ehegatten gegenseitig zu Erben einsetzen und nach dem Tode beider Ehegatten die Kinder Erben sein sollen.
3.3.1 Voraussetzungen für die Begünstigung und Besteuerung des Erwerbs des Schlusserben bzw. des Schlussvermächtnisnehmers
Rz. 63
§ 15 Abs. 3 ErbStG ordnet für die Schlusserben (die "Dritten" i. S. d. § 2269 BGB) des Berliner Testaments – abweichend vom Erbrecht – an, dass sich die Steuerklasse für die Schlusserben nach dem Verwandtschaftsgrad zum erstverstorbenen Ehegatten richtet, soweit sein Vermögen beim Erbgang des letztverstorbenen Ehegatten noch vorhanden war. Dies setzt voraus, dass das Vermögen des Erstversterbenden beim Tod des ihn überlebenden Ehepartners (wertmäßig) noch vorhanden ist. Es muss sich nicht um "dieselben Vermögensgegenstände" handeln, sondern es reicht aus, wenn der Wert des Vermögens noch in anderer Form vorhanden ist.
Rz. 64
Die Anwendung der Vorschrift erfordert zudem die Bindung des überlebenden Ehegatten an die letztwillige Verfügung. Das ist dann nicht mehr der Fall, wenn der zuletzt verstorbene Ehepartner testamentarisch berechtigt war, über den Nachlass frei zu verfügen und durch eine letztwillige Verfügung die Erbfolge (teilweise) neu regelt. § 15 Abs. 3 ErbStG bleibt demgegenüber insoweit anwendbar, als der überlebende Ehegatte durch eine spätere Verfügung von Todes wegen zwar anders verteilt, aber die Erbquote des Schlusserben nicht verändert hat. Ursprünglich hatte der BFH entschieden, dass § 15 Abs. 3 ErbStG auch dann anwendbar ist, wenn dem überlebenden Ehegatten das Recht zur Testamentsänderung eingeräumt war, er aber davon keinen Gebrauch gemacht hatte. Allerdings ist er in einem späteren Urteil hiervon wieder abgerückt (BFH vom 26.09.1990, BStBl II 1990, 1067). In dem dort entschiedenen Fall hatte der überlebende Ehegatte zwar sein Recht zu anderweitigem Testieren ausgeübt, aber die Erbquote und die Person des Schlusserben nicht verändert. Nach der neueren Rechtsprechung sind spätere Verfügungen des überlebenden Ehegatten, die die im Ehegattentestament festgelegte Erbquote des Schlusserben unverändert lassen, für die Gewährung der Steuerklassenvergünstigung des § 15 Abs. 3 ErbStG unschädlich. Unter diesen Voraussetzungen wird man auch in Zukunft die Steuerklasse der Schlusserben bei vorhandenem Nachlassvermögen des vorverstorbenen Ehegatten umfassend nach deren Verwandtschaftsgrad zu diesem Vermögensträger bestimmen. Erhält der Schlusserbe allerdings infolge der späteren Testierung des überlebenden Ehegatten über seine Erbquote hinaus weiteres Vermögen – im Urteilsfall handelte es sich um ein Vorausvermächtnis –, ist der zusätzliche Erwerb nach dem ungünstigeren Verwandtschaftsverhältnis zum überlebenden Ehegatten zu besteuern (BFH vom 16.06.1999, BStBl II 1999, 789; R E 15.3 ErbStR).
Rz. 65
Da auch Lebenspartner nach § 10 Abs. 4 LPartG ein gemeinschaftliches Testament errichten können, erhalten auch die mit dem verstorbenen Lebenspartner näher verwandten Erben und Vermächtnisnehmer in gleicher Weise wie bei einem verstorbenen Ehegatten die Möglichkeit nach dem günstigeren verwandtschaftlichen Verhältnis zu dem erstverstorbenen Lebenspartner versteuert zu werden (R E 15.3 ErbStR).
Rz. 66
Erbschaftsteuerliche Besonderheiten ergeben sich im Hinblick auf die Steuerklasse dann, wenn der Schlusserbe zum letztversterbenden Ehegatten oder Lebenspartner in einem ungünstigeren Verwandtschaftsverhältnis steht als zum zuerst verstorbenen Ehe- oder Lebenspartner oder in den Fällen des § 14 ErbStG.
Die kinderlos gebliebenen Eheleute M und F haben sich in einem Berliner Testament zu gegenseitigen Erben eingesetzt und zugleich bestimmt, dass nach dem Tod des zuletzt Versterbenden ihr Vermögen dem Bruder der F – dem B – zufallen soll. F verstirbt zuerst. Beim Tod des M erwirbt B Vermögen i. H. v. 50.000 EUR. Die Hälfte des Vermögens stammt von F.
Lösung:
Der Schlusserbe B ist bürgerlich-rechtlich für den gesamten Nachlass als Erbe des zuletzt versterbenden M eingesetzt (§ 2269 Abs. 1 BGB). Infolgedessen müsste er sein Erbe nach der für ihn ungünstigeren Steuerklasse III (§ 15 Abs. 1 ErbStG) versteuern (Verhältnis zu Schwester F = Steuerklasse II, § 15 Abs. 1 II Nr. 2 ErbStG); Verhältnis zu Schwager M = Steuerklasse III).
§ 15 Abs. 3 ErbStG enthält für diese Fallgestaltung eine Sonderregelung. Soweit der überlebende Ehegatte an die Verfügung im Berliner Testament gebunden ist, regelt diese Vorschrift für das Erbschaftsteuerrecht in Abweichung vom bürgerlichen Recht, dass die mit dem erstverstorbenen Ehegatten näher verwandten Erben als seine Erben und nicht als Erben des Letztverstorbenen anzusehen sind. Der Schlusserbe B kann deshalb sein von F stammendes Erbe nach der für ihn günstigeren Steuerklasse II (Verhältnis zur Schwester F) versteuern.
Rz. 67
§ 15 Abs. 3 ErbStG beruht auf der Überlegung, dass ein alleiniges Abstellen auf das Verwandtschaftsverhältnis zu dem zuletzt versterbenden Ehe- oder Lebenspartner i. S. d. Lebenspar...