Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Preißer
Ausgewählte Literaturhinweise:
Langenfeld, Das Gesetz zur Änderung des Erb- und Verjährungsrechts – Inhalt und Praxisfolgen, NJW 2009, 3121;
Lohr/Görges, Die Behandlung des Pflichtteils in der Erbschaftsteuer – Überblick mit Gestaltungsempfehlungen, DStR 2011, 1939;
Seer/Krumm, Der Pflichtteilsanspruch im System der erbschaftsteuerlichen Vermögensanfallbesteuerung, ZEV 2010, 57;
Wälzholz, Die zeitliche Geltendmachung von Pflichtteilsansprüchen – Zivil- und steuerrechtliche Überlegungen aus Anlass aktueller Rechtsprechung, ZEV 2007, 162.
Ausgewählte Rechtsprechung:
BFH vom 10.07.2002, BStBl II 2002, 775;
BFH-Beschluss vom 21.08.2015, BeckRS 2015, 95636.
5.1 Die Kernaussage im Erbschaftsteuergesetz
Rz. 260
Vergleichbar den Vermächtnissen haben Pflichtteilsansprüche im Erbschaftsteuerrecht eine doppelte Funktion:
- Zum einen stellen sie beim Berechtigten einen Steuertatbestand dar (s. § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG) und
- zum anderen bilden sie beim Verpflichteten (Erben) einen Abzugsposten (s. § 10 Abs. 5 Nr. 2 ErbStG) bei der Ermittlung der Bereicherung.
In beiden Fällen werden die Pflichtteile jedoch nur dann berücksichtigt, wenn sie geltend gemacht werden (s. auch § 9 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b ErbStG; Entstehung der Steuer im Zeitpunkt der Geltendmachung). Die Zurückhaltung des Gesetzgebers, nur aktualisierte – und nicht bereits latent vorhandene – Pflichtteilsansprüche bilateral zu berücksichtigen, trägt der Erfahrungstatsache Rechnung, dass nicht alle rechtlich bestehende Pflichtteilsansprüche realisiert werden. Ein weiterer Grund für die ausschließliche Berücksichtigung von tatsächlich geltend gemachten Pflichtteilsansprüchen ergibt sich aus der zivilrechtlichen Systematik der Erwerbe von Todes wegen. Während der Erbe die Erbschaft erst mit Annahme oder nach Verstreichen der Ausschlagungsfrist (§ 1944 BGB) endgültig erwirbt, hat der Pflichtteilsgläubiger ein derartiges Ausschlagungsrecht nicht; der Anspruchserwerb vollzieht sich kraft Gesetzes mit dem Todesfall. Da es unbillig wäre, einen nicht ausschlagbaren Pflichtteilsanspruch der Erbschaftsteuer zu unterwerfen, ist dieser nur im Falle der Geltendmachung als Erwerb von Todes wegen zu qualifizieren (s. hierzu ausführlich Seer/Krumm, ZEV 2010, 57, 58 f.).
Rz. 261
Zur Frage des "Geltendmachens" liegen mehrere Erkenntnisse der Rechtsprechung vor; obwohl die Urteile meist zur "Kehrseite", d. h. zu § 10 Abs. 5 Nr. 2 ErbStG, ergangen sind, können sie auf die Erwerbsthematik übertragen werden:
- Klarstellend zum BFH-Urteil vom 07.10.1998 (BStBl II 1999, 23) führt der BFH im Urteil vom 30.04.2003 aus, dass es beim Wortlaut des § 10 Abs. 5 Nr. 2 ErbStG bleibt, wonach der Pflichtteilsanspruch nur ernsthaft geltend gemacht werden muss. Auf die Bezifferung des Pflichtteilsanspruchs kommt es ebenso wenig an wie auf die Erfüllung dieser Geldschuld (s. BFH vom 19.07.2006, BStBl II 2006, 718).
- Für verjährte Pflichtteilsansprüche kommt allenfalls ein Abzug gem. § 10 Abs. 5 Nr. 1 ErbStG in Betracht. Dies gilt nach FG München vom 24.07.2002 (EFG 2002, 1626) aber nicht, wenn von den späteren Erben eigene – ihnen – zustehenden Pflichtteilsansprüche gegen den Vorverstorbenen verspätet geltend gemacht werden (fehlende wirtschaftliche Belastung).
- Der BFH hat am 08.10.2003 (StErb 2004, 106) für einen Pflichtteilsergänzungsanspruch infolge einer lebzeitigen Schenkung des Erblassers entschieden, dass dieser bei der Besteuerung der Schenkung (!) nach § 10 Abs. 5 Nr. 2 ErbStG erwerbsmindernd abzuziehen ist.
Rz. 262
Wälzholz (ZEV 2007, 162) zeigt die verschiedenen Möglichkeiten der Gestaltungspraxis auf, wie mit einem unbezifferten Pflichtteilsanspruch oder einer teilweisen Geltendmachung die Rechtslage unter den Parteien in der Schwebe gehalten werden kann, andererseits aber doch steuerliche Wunschergebnisse zu erzielen sind.
Hat der Pflichtteilsberechtigte lediglich einen Teil seines Anspruchs geltend gemacht, entsteht nur in dieser Höhe die Erbschaftsteuer bzw. kann der Erbe nur in dieser Höhe Nachlassverbindlichkeiten geltend machen (BFH vom 19.07.2006, BFHE 213, 122, BStBl II 2006, 718). Dasselbe gilt, wenn sich der Pflichtteilsberechtigte nach ernstlichem Streit über die Höhe seines Pflichtteils vergleichsweise mit weniger zufrieden gibt, als er beansprucht hat und ihm zusteht; auch in diesem Fall kann er nur aus diesem niedrigeren Wert besteuert werden (BFH vom 18.07.1973, BStBl II 1973, 798 und vom 19.07.2006, BFHE 213, 122, BStBl II 2006, 718).
Rz. 263
Hinweis: Das deutsche Pflichtteilsrecht greift wirtschaftlich viel stärker in die Substanz der übertragenen Vermögensgegenstände ein, als dies bei den meisten erbrechtlichen Legitimationen der Fall ist. Besonders deutlich wird dies bei vererbten Unternehmen. Während die Erbeinsetzung oder das erbrechtliche "Minus" einer Nießbrauchsbestellung den Berechtigten an den künftigen Erträgen teilnehmen lässt und ihm im Worst-case-Szenario einen Liquidationsgewinn (ggf. unter Verlust aller vorherigen Steuerprivilegien) verspricht, greift der Pflichtteilsanspruch direkt und sofort in die Vermögensausstattu...