Dipl.-Kffr. Christina Vosseler, Dr. Christoph Regierer
1 Allgemeines
Rz. 1
Die Erbschaftsteuer knüpft an den Übergang von Vermögen auf eine andere Person an. Durch die Anknüpfung an die Verkehrswerte und Steuersätze bis zu 50 % ist die Steuer so bemessen, dass die Steuer regelmäßig nicht aus den Vermögenserträgen bestreitbar ist, sondern der Vermögensstamm selbst angegriffen werden muss. Die Erbschaftsteuer erfüllt damit bewusst auch einen gewissen Umverteilungseffekt.
Rz. 2
Innerhalb der engeren Familie – der verfassungsrechtlich geschützten Kernfamilie– also der Steuerklasse I, hat der Gesetzgeber durch größere Freibeträge und einen Steuersatz von maximal 30 % allerdings dafür gesorgt, dass sich das Vermögen in der Regel zwischen zwei Erbschaftsteuerfällen durch Erträge und Wertsteigerungen wieder erhöht, so dass keine dauerhafte Vermögensminderung eintritt. Dies setzt jedoch voraus, dass zwischen den Steuerfällen ein hinreichend langer Zeitraum von einer Generation liegt, wie es normalerweise der Fall ist. Da die Steuerentstehung bei der Erbschaftsteuer vom Tod des Erblassers und damit von nicht kontrollierbaren Faktoren abhängt, können jedoch auch sehr viel kürzere Zeiträume zwischen den einzelnen Erwerben liegen. Diese können das Vermögen erheblich beeinträchtigen und stellen keinen Grund für einen Erlass der Erbschaftsteuer aus Billigkeitsgründen dar.
Das im Güterstand der Gütertrennung lebende Ehepaar M und F hat ein Berliner Testament, in dem sie sich gegenseitig zu Alleinerben einsetzen und ihren Sohn S als Schlusserben. Der unverheiratete S hat selbst eine Tochter, die 16-jährige T. Bei einem Autounfall verstirbt der Ehemann M sofort am Unfallort. Auf dem Weg ins Krankenhaus verstirbt seine Ehefrau F. Auch Sohn S erliegt kurze Zeit darauf seinen Verletzungen. M hat ein Vermögen mit einem Steuerwert von 2 Mio. EUR. F und S hatten kein eigenes Vermögen.
Lösung:
Obwohl es sich um einen mittelgroßen Erwerb in der engsten Familie handelt, würden der Erbin T ohne § 27 ErbStG durch die mehrfachen Erbfälle nur ca. 65 % des Vermögens verbleiben.
Rz. 3
Dieser Effekt wird durch § 27 ErbStG abgemildert. Durch diese Vorschrift wird die Steuer auf die folgenden Erwerbe abgesenkt und zwar maximal um 50 %. Allerdings wird die Steuerermäßigung ausschließlich innerhalb der Steuerklasse I gewährt, obwohl die Steuerbelastung in den Steuerklassen II und III sogar noch höher ist. Dies stellt neben den Freibeträgen und den niedrigeren Steuersätzen eine weitere bewusste Begünstigung der engsten Familie dar. Die Beschränkung auf Erwerbe innerhalb eines Zehnjahreszeitraums bedeutet wiederum eine Einschränkung, denn der durchschnittliche Zeitraum zwischen zwei Erwerben von Todes wegen ist eine Generation, also ca. 30 Jahre. Dies kommt auch in der Erbersatzsteuer zum Ausdruck (s. Hannes/Holtz in M/H/H, § 27 Rn. 1). Der Gesetzgeber hat sich bewusst dafür entschieden, die Steuerermäßigung nur bei einem sehr engen Abstand zwischen den beiden Erwerben zur Anwendung zu bringen und die Höhe der Ermäßigung nach der Zeit, die zwischen beiden Erwerben lag, gestaffelt.
Rz. 4–9
vorläufig frei
2 Voraussetzungen für die Ermäßigung (§ 27 Abs. 1 ErbStG)
2.1 Erwerbe innerhalb der Steuerklasse I
Ausgewählte Rechtsprechung:
BFH vom 14.07.2011, BFH/NV 2011, 1881;
FG Berlin vom 10.03.1992, EFG 1992, 470.
Rz. 10
Eine Steuerermäßigung gem. § 27 Abs. 1 ErbStG kann nur gewährt werden, wenn beide Vermögensübergänge innerhalb der Steuerklasse I erfolgt sind. Entscheidend ist dabei die Betrachtung des jeweiligen Erwerbvorgangs; ohne Bedeutung ist die Frage, in welchem Verhältnis der Letzterwerber zum ursprünglichen Vermögensübertragenden steht.
In 2015 stirbt der A. Erbe ist sein Sohn S. In 2019 verstirbt der S und wird beerbt von
- seiner Ehefrau E,
- seinem Bruder B.
Lösung:
- § 27 ErbStG ist anwendbar, da der Erwerb von A auf S innerhalb der Steuerklasse I erfolgte, ebenso wie der Erwerb von S auf E. Die Tatsache, dass die E im Verhältnis zu A in Steuerklasse II fällt, ist ohne Bedeutung.
- § 27 ErbStG ist nicht anwendbar, da der Erwerb von S auf B innerhalb der Steuerklasse II erfolgt. Dass der B im Verhältnis zum A in Steuerklasse I fällt, ist ohne Bedeutung.
Rz. 11
Nach Ansicht der Rechtsprechung sind die Steuerklassen maßgeblich, die im Zeitpunkt des zu besteuernden (Letzt-)Erwerbs gelten (s. FG Berlin vom 10.03.1992, EFG 1992, 470). Dies ist bspw. von Bedeutung, wenn sich die Zuordnungen zu den Steuerklassen ändern (z. B. im Jahr 1997 Zusammenfassung der Steuerklassen I und II zu Steuerklasse I).
In 1996 vererbt die T ihrer Mutter M ein Grundstück. In 2005 stirbt die M, Erbe ist ihr Sohn S.
Lösung:
Obwohl der Erwerb in 1996 in Steuerklasse II erfolgte (§ 15 Abs. 1 Steuerklasse II Nr. 2 ErbStG a. F.), ist § 27 Abs. 1 ErbStG anwendbar, da die M im Verhältnis zu ihrer Tochter T nach dem in 2005 geltenden § 15 Abs. 1 Nr. 1 Steuerklasse I Nr. 4 ErbStG in die Steuerklasse I fällt.
Rz. 12
Diese Rechtsprechung bezieht sich allerdings nur auf eine Änderung der rechtlichen Regelungen. Fraglich ist, ob die gleichen Grundsätze gelten, wenn sich das Angehörigenverhältnis zwischenzeitlich geändert...