Entscheidungsstichwort (Thema)
Richterablehnung nach Schluss der mündlichen Verhandlung
Leitsatz (NV)
- Ein Antrag auf Richterablehnung kann auch nach Schluss der mündlichen Verhandlung gestellt werden, solange das Urteil noch nicht wirksam geworden ist und daher die aufgrund der mündlichen Verhandlung getroffene Entscheidung noch geändert oder ggf. auch die mündliche Verhandlung wieder eröffnet werden kann.
- Grundsätzlich ist ein nicht verkündetes Urteil erst mit seiner Zustellung wirksam erlassen. Das Gericht ist aber schon vor der Zustellung an seine auf Grund der mündlichen Verhandlung getroffene Entscheidung gebunden, wenn die Urteilsformel von den Berufsrichtern, die an der Entscheidung mitgewirkt haben, unterschrieben, binnen zwei Wochen nach der mündlichen Verhandlung der Geschäftsstelle übergeben und anschließend einem Beteiligten formlos bekannt gegeben worden ist. Nach Bekanntgabe der fristgerecht unterschriebenen und hinterlegten Urteilsformel ist deshalb ein Richterablehnungsgesuch nicht mehr statthaft.
Normenkette
FGO § 51 Abs. 1, § 104; ZPO § 42 Abs. 2
Tatbestand
I. Die Streitsache wurde am 27. Juni 2000 vor dem Finanzgericht (FG) mündlich verhandelt. Die mündliche Verhandlung wurde geschlossen mit der Verkündung des Beschlusses, die Entscheidung werde den Beteiligten zugestellt.
Der von den Berufsrichtern (dem Vorsitzenden Richter am FG A, dem Richter am FG B und dem Richter am FG C) unterschriebene Tenor des Urteils vom 27. Juni 2000 wurde am 29. Juni 2000 bei der Geschäftsstelle des 11. Senats hinterlegt. Auf telefonische Anfrage teilte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle dem Prozessbevollmächtigten der Kläger am 19. Juli 2000 den Tenor (Abweisung der Klage) mit.
Mit Schreiben vom 20. Juli 2000 lehnte der Prozessbevollmächtigte den Berichterstatter in der Streitsache ―Richter am FG B― wegen Besorgnis der Befangenheit ab, weil dieser während der mündlichen Verhandlung anlässlich der Diskussion über die Beweisanträge des Prozessbevollmächtigten im Schriftsatz vom 13. August 1999 gegenüber dem Vorsitzenden geäußert habe: "Da kannst du machen, was du willst, aber ich werde den Fall nicht mehr anrühren." Er, der Prozessbevollmächtigte, habe diese Bemerkung zwar nicht gehört, sei darauf aber nach der Verhandlung von Rechtsanwalt D aufmerksam gemacht worden, der als Zuhörer an der mündlichen Verhandlung teilgenommen habe. Die Äußerung von Richter B lege den Schluss nahe, dass dieser den Rechtsstreit nicht unparteiisch habe verhandeln und entscheiden wollen. Insbesondere dränge sich der Eindruck auf, dass der Vortrag im Schriftsatz vom 13. August 1999 nicht habe berücksichtigt werden sollen. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung könne ein Richter auch dann abgelehnt werden, wenn der Ablehnungsgrund zwar nach der mündlichen Verhandlung und Beratung, aber vor Zustellung des Urteils und damit vor dessen Wirksamkeit bekannt geworden sei (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 17. Dezember 1996 IX R 1/95, BFH/NV 1997, 582).
Das FG wies das Ablehnungsgesuch durch Beschluss vom 20. Oktober 2000 ohne Mitwirkung von Richter B als unzulässig zurück. Für ein Ablehnungsgesuch bestehe kein Rechtsschutzinteresse, wenn sich die Ablehnung nicht mehr auf die Sachentscheidung des Gerichts auswirken könne. Im Streitfall habe der Prozessbevollmächtigte das Ablehnungsgesuch erst angebracht, nachdem ihm der hinterlegte Tenor mitgeteilt worden sei. Durch die Bekanntgabe der Urteilsformel sei das Urteil wirksam geworden und das FG an die getroffene Entscheidung gebunden. Die mündliche Verhandlung hätte nicht wieder eröffnet werden können. Auch habe kein Hinderungsgrund bestanden, das Ablehnungsgesuch im Anschluss an die mündliche Verhandlung zu stellen. Da das Ablehnungsgesuch somit missbräuchlich und offensichtlich unzulässig sei, sei eine Stellungnahme des abgelehnten Richters nicht erforderlich.
Mit der Beschwerde vom 3. November 2000 gegen die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs brachte der Prozessbevollmächtigte vor: Eine Richterablehnung sei auch noch möglich, wenn der Ablehnungsgrund nach der mündlichen Verhandlung, aber vor Zustellung des Urteils und damit vor dessen Wirksamkeit bekannt geworden sei (BFH in BFH/NV 1997, 582). Die telefonische Bekanntgabe des hinterlegten Tenors sei unerheblich. Denn die mündliche Verhandlung könne bis zur Verkündung (§ 104 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―) oder Zustellung des Urteils (§ 104 Abs. 2 FGO) wieder eröffnet werden.
Zur Vorbereitung der Entscheidung, ob der Beschwerde gegen den Beschluss über das Ablehnungsgesuch abgeholfen werden könne, forderte der neue Vorsitzende des … Senats von Richter B eine dienstliche Äußerung zu dem Vorgang in der mündlichen Verhandlung an. Dieser räumte ein, die beanstandete Äußerung wörtlich oder zumindest sinngemäß abgegeben zu haben. Mit dieser Äußerung habe er lediglich sein Interesse an einer baldigen Entscheidung kundtun wollen, zumal die Pensionierung des damaligen Vorsitzenden zum 30. August 2000 angestanden habe und er selbst wegen Erreichens der Altersgrenze zum 30. November 2001 ausscheiden werde.
Das FG half der Beschwerde nicht ab. In dem Beschluss vom 15. Dezember 2000 ―ohne Mitwirkung des Richters B― führte es aus, selbst wenn die Richterablehnung nicht als unzulässig beurteilt werde, so sei sie jedenfalls unbegründet. Die beanstandete Bemerkung sei nicht geeignet, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters B zu rechtfertigen. Die Bemerkung bringe lediglich Erleichterung darüber zum Ausdruck, einen arbeitsintensiven Fall zum Abschluss gebracht zu haben.
Der Beklagte, Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt ―FA―) beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers, Antragstellers und Beschwerdeführers (Kläger) erhob gegen das die Klage abweisende finanzgerichtliche Urteil nach dessen Zustellung Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision. Vorsorglich legte er daneben Revision gemäß § 116 Abs. 1 Nr. 2 FGO i.d.F. vor In-Kraft-Treten des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze (2.FGOÄndG) vom 19. Dezember 2000 (BGBl I 2000, 1757) ein und bat um Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zur Entscheidung über das Ablehnungsgesuch.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unbegründet.
Zu Recht hat das FG das Ablehnungsgesuch mangels Rechtsschutzinteresses als unzulässig zurückgewiesen.
1. Mit der Richterablehnung nach § 51 Abs. 1 FGO i.V.m. § 42 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) kann nur das Ziel verfolgt werden, den abgelehnten Richter an einer weiteren Tätigkeit in dem betreffenden Verfahren zu hindern. Für ein Gesuch auf Richterablehnung fehlt oder entfällt daher das Rechtsschutzbedürfnis, wenn die Instanz mit allen Nebenentscheidungen beendet ist und auch eine Abänderung der Entscheidung nicht mehr in Betracht kommt (z.B. BFH-Beschluss vom 14. Mai 1996 VII B 257/95, BFH/NV 1996, 904). Dagegen ist ein Ablehnungsgesuch auch nach Schluss der mündlichen Verhandlung noch statthaft, solange das Urteil noch nicht wirksam geworden ist (BFH in BFH/NV 1997, 582). Denn bis zur Wirksamkeit des Urteils kann das Gericht nach nochmaliger Beratung die aufgrund der mündlichen Verhandlung getroffene Entscheidung aufheben oder ändern und ggf. auch die mündliche Verhandlung wieder eröffnen, damit weiteres Vorbringen der Beteiligten berücksichtigt werden kann.
2. Ein Urteil ist gemäß § 104 Abs. 1 FGO mit seiner Verkündung wirksam erlassen. Statt der Verkündung ist nach § 104 Abs. 2 FGO die Zustellung des Urteils zulässig; es ist dann binnen zwei Wochen nach der mündlichen Verhandlung der Geschäftsstelle zu übergeben. Nach ständiger Rechtsprechung ist dieser Vorschrift auch dann genügt, wenn die unterschriebene Urteilsformel fristgerecht der Geschäftsstelle übergeben wird. Mit der formlosen Bekanntgabe der Urteilsformel an einen Beteiligten gilt die Entscheidung als verkündet. Das Gericht ist dann an seine Entscheidung gebunden (z.B. BFH-Urteile vom 6. November 1985 II R 217/85, BFHE 145, 120, BStBl II 1986, 175; vom 28. November 1995 IX R 16/93, BFHE 179, 8, BStBl II 1996, 142; BFH-Beschluss vom 24. November 1994 X B 146-149/94, BFH/NV 1995, 692, jeweils m.w.N. zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts); eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung kommt nicht mehr in Betracht.
3. Entgegen der Auffassung des Klägers steht der BFH-Beschluss in BFH/NV 1997, 582 hierzu nicht in Widerspruch. Nach den ―im Übrigen nicht entscheidungserheblichen― Ausführungen in diesem Beschluss ist es vor Wirksamkeit des Urteils möglich, über das Ablehnungsgesuch zu entscheiden und ggf. die mündliche Verhandlung erneut zu eröffnen. Der IX. Senat erwähnt nur den Fall des Wirksamwerdens durch Zustellung an die Beteiligten. Die Variante, dass das Urteil auch durch Bekanntgabe der Urteilsformel wirksam werden kann, wird nicht erwähnt. Hierauf kam es in jenem Fall schon deshalb nicht an, weil der Kläger das Ablehnungsgesuch erst mit der Revision gestellt hatte.
4. Auf die in BFH/NV 1997, 582 offen gelassene Frage, ob ein Ablehnungsgesuch auch dann unzulässig ist, wenn es dem Betroffenen nicht möglich war, den Antrag vor dem Wirksamwerden der Entscheidung beim FG anzubringen, kommt es im Streitfall nicht an, da der Prozessbevollmächtigte des Klägers nach Schluss der mündlichen Verhandlung am 27. Juni 2000 durch Rechtsanwalt D über die beanstandete Äußerung des Richters B informiert worden ist und somit das Ablehnungsgesuch vor Wirksamwerden des Urteils hätte stellen können. Er hat sich jedoch erst am 19. Juli 2000 bei der Geschäftsstelle über den Ausgang des Verfahrens informiert und danach Richter B wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt.
Fundstellen