Entscheidungsstichwort (Thema)
Außerordentliche Beschwerde bei greifbarer Gesetzeswidrigkeit: Vorläufiger Rechtsschutz bei Ablehnung von Kindergeld
Leitsatz (NV)
Eine außerordentliche Beschwerde ist nur ausnahmsweise bei greifbarer Gesetzeswidrigkeit statthaft, also dann, wenn eine Entscheidung mit der geltenden Rechtsordnung schlechthin unvereinbar ist, weil sie jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und inhaltlich dem Gesetz fremd ist. Die Entscheidung eines FG, dass gegen die Ablehnung von Kindergeld vorläufiger Rechtsschutz nicht durch Aussetzung der Vollziehung dieses Bescheides, sondern nur durch eine einstweilige Anordnung gewährt werden könne, überschreitet den gesetzlichen Rahmen nicht.
Normenkette
FGO §§ 40, 69, 100 Abs. 2 S. 1, §§ 114, 128; EStG § 32 Abs. 4, § 66 Abs. 2
Tatbestand
I. Der Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) hatte beantragt, ihm für seine Tochter Kindergeld zu bewilligen. Der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Arbeitsamt) gab diesem Antrag für die Zeit von März bis Dezember 1999 statt. Mit Bescheid vom 11. Juli 2000 hob es die Festsetzung des Kindergeldes ab dem Monat Januar 2000 mit dem Hinweis auf, dass die Einkünfte der Tochter den in § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) festgelegten Grenzbetrag überschritten. Der Einspruch blieb erfolglos. Die Klage ist noch beim Finanzgericht (FG) anhängig.
Das FG hat den während des Klageverfahrens gestellten (weiteren) Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (AdV) des angefochtenen Bescheides abgelehnt. Zur Begründung führte es aus, der Antragsteller könne die Weitergewährung des Kindergeldes nicht im Wege der AdV dieses Bescheides erreichen, weil es sich inhaltlich nicht um die Aufhebung der zeitlich bis Dezember 1999 befristeten Kindergeldfestsetzung, sondern um eine Ablehnung des Kindergeldes ab Januar 2000 handele. Der Antragsteller hätte deshalb eine Verpflichtungsklage mit dem Ziel der Weitergewährung des Kindergeldes erheben müssen. Bei einer Verpflichtungsklage komme jedoch vorläufiger Rechtsschutz über die AdV grundsätzlich nicht in Betracht; es sei deshalb von einem Antrag auf einstweilige Anordnung auszugehen. Die Voraussetzungen einer einstweiligen Anordnung seien hier aber nicht erfüllt.
Das FG hat die Beschwerde nicht zugelassen. Der Antragsteller beantragt deshalb mit der "außerordentlichen Beschwerde", den Beschluss des FG wegen greifbarer Gesetzeswidrigkeit aufzuheben. Es komme hier nur eine Anfechtungsklage in Betracht; für eine Umdeutung eines AdV-Antrages in einen Antrag auf einstweilige Anordnung fehle jede Grundlage im Gesetz.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unzulässig.
1. Nach § 128 Abs. 3 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) steht dem Beteiligten die Beschwerde gegen eine Entscheidung im Verfahren über die AdV nur zu, wenn das FG sie zugelassen hat. Hieran fehlt es im Streitfall. Der von dem Antragsteller beanstandete Beschluss des FG ist deshalb von Gesetzes wegen unanfechtbar; eine hiergegen gerichtete Beschwerde ist nicht statthaft.
2. Die Beschwerde ist auch nicht als außerordentliche Beschwerde zulässig.
a) Eine außerordentliche Beschwerde ist nach der Rechtsprechung unter dem Gesichtpunkt der "greifbaren Gesetzwidrigkeit" ausnahmsweise dann statthaft, wenn eine Entscheidung mit der geltenden Rechtsordnung schlechthin unvereinbar ist, weil sie jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und inhaltlich dem Gesetz fremd ist. Die Rechtsfehlerhaftigkeit der Entscheidung allein genügt hierfür selbst dann nicht, wenn das FG Rechtsvorschriften eindeutig unrichtig angewandt hat (vgl. u.a. Beschluss des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 18. Januar 2000 I B 119/99, BFH/NV 2000, 858, und vom 2. Dezember 1999 I B 62/99, BFH/NV 2000, 845; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 128 Rz. 16, m.w.N.). Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist schlüssig und substantiiert darzulegen (vgl. BFH-Beschluss vom 10. Dezember 1997 I B 107, 124/97, BFH/NV 1998, 716).
b) Im Streitfall ist die greifbare Gesetzeswidrigkeit nicht schlüssig dargelegt.
Das FG hat den "Aufhebungsbescheid" in vertretbarer Weise als Bescheid beurteilt, mit dem das Arbeitsamt eine Gewährung von Kindergeld für die Zeit ab Januar 2000 erstmals abgelehnt hat. Die Kindergeldfestsetzung ist ein teilbarer, auf jeden Monat bezogener Verwaltungsakt (§ 66 Abs. 2 EStG und dazu BFH-Urteil vom 26. Juli 2001 VI R 163/00, BFHE 196, 274, BStBl II 2002, 174). Dementsprechend konnte das Arbeitsamt die Kindergeldfestsetzung auf die Zeit von März bis Dezember 1999 beschränken und für die Folgezeit erneut gewähren oder ablehnen.
Lehnt das Arbeitsamt die (Weiter-)Gewährung des Kindergeldes ab, ist dagegen ―wie gegen jeden Vergütungsbescheid― Einspruch und Klage gegeben (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 14. Juli 1999 VI B 89/99, BFH/NV 1999, 1597). Es ist allerdings fraglich, ob die Verpflichtungsklage in diesem Fall die zutreffende Klageart ist. Das Arbeitsamt hat den Kindergeldanspruch mit der Begründung abgelehnt, dass die eigenen Einkünfte des Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG überstiegen. Es hat die Kindergeldfestsetzung ―also einen einen Geldbetrag festsetzenden Bescheid i.S. von § 100 Abs. 2 Satz 1 FGO― nach einer materiell-rechtlichen Prüfung abgelehnt, die im Ergebnis einer Null-Festsetzung entspricht (zur verfahrensrechtlichen Gleichbehandlung von Aufhebungs-, Ablehnungs- und Freistellungsbescheiden sowie Nullfestsetzungen vgl. BFH-Urteile vom 25. Juli 2001 VI R 78/98, BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88, und vom 25. Juli 2001 VI R 164/98, BFHE 196, 257, BStBl II 2002, 89). Für Ablehnungsbescheide, die nach einer materiell-rechtlichen Prüfung ergangen sind, ist streitig, ob eine Anfechtungsklage oder eine Verpflichtungsklage zu erheben ist (zum Streitstand vgl. u.a. von Beckerath in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 40 FGO Rz. 79 ff., 113; Gräber/von Groll, a.a.O., 5. Aufl., § 40 Rz. 14 ff.; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 40 FGO Tz. 11). Die Rechtsprechung geht überwiegend von einer Anfechtungsklage aus (vgl. u.a. ―für Investitionszulage― BFH-Urteil vom 20. Dezember 2000 III R 17/97, BFH/NV 2001, 914, und zu der teilweise abweichenden Rechtsprechung von Beckerath in Beermann, a.a.O., § 40 FGO Rz. 84); die Ansicht, es handele sich um eine Verpflichtungsklage, ist aber vertretbar.
Ob sich an diese Differenzierung der Klagearten notwendigerweise auch eine Differenzierung des vorläufigen Rechtsschutzes knüpft (zum Streitstand Gräber/Koch, a.a.O., § 69 Rz. 5), kann für den Streitfall offen bleiben. Die hierzu ergangenen Entscheidungen des für das Kindergeld bisher zuständigen VI. Senats des BFH legen eine solche Unterscheidung jedenfalls nahe. Denn nach diesen Entscheidungen soll es für die Möglichkeit zur AdV eines Kindergeldbescheides wesentlich darauf ankommen, ob mit dem angefochtenen Verwaltungsakt in eine zunächst gesicherte Rechtsposition des Kindergeldberechtigten eingegriffen wird. Ein solcher Eingriff ist angenommen worden, wenn Kindergeld auf unbestimmte Zeit (Dauerverwaltungsakt) zuerkannt worden und später durch einen Aufhebungsbescheid (teilweise) wieder aberkannt worden ist (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 20. Februar 1998 VI B 205/97, BFH/NV 1998, 963). Es spricht einiges dafür, dass die AdV von Bescheiden die ―mit oder ohne sachliche Prüfung― die Kindergeldfestsetzung für bestimmte Monate erstmals ablehnen, nicht nach diesen Grundsätzen zu beurteilen ist. Für diese Ansicht spricht insbesondere die Erwägung, dass ein Gericht nicht aus eigener Kompetenz Förderleistungen gewähren darf, wenn die eng umschriebenen Voraussetzungen einer einstweiligen Anordnung nach § 114 FGO nicht erfüllt sind.
Fundstellen