Entscheidungsstichwort (Thema)
Richterablehnung wegen Weigerung, die Akten zu übersenden und das Verfahren zu vertagen
Leitsatz (NV)
1. Die ablehnende Entscheidung, Steuerakten in die Kanzlei des Klägers zu versenden, ist nicht geeignet, Mißtrauen in die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen. Eine Ausnahme davon ist aufgrund einer Ermessensentscheidung zulässig, bei der die gegen eine Aktenübersendung sprechenden Interessen (insbesondere Vermeidung von Aktenverlusten, Wahrung des Steuergeheimnisses gegenüber Dritten, jederzeitige Verfügbarkeit der Akten) gegenüber den Interessen des Prozeßbevollmächtigten an der Übersendung abzuwägen sind.
2. Unzutreffende Rechtsauffassungen eines Richters und Verfahrensfehler, die diesem unterlaufen, können die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit in der Regel nicht begründen.
Normenkette
FGO § 51 Abs. 1; ZPO § 42 Abs. 1-2; FGO § 78 Abs. 1 S. 1
Tatbestand
Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) hat im Termin zur mündlichen Verhandlung am 7. März 1995 den für die Verfahren ... und ... als Einzelrichter bestimmten Vorsitzenden Richter am Finanzgericht X als Einzelrichter einmal mit der Begründung wegen Befangenheit abgelehnt, dieser habe ihm die Mitnahme der Steuerakten in seine Kanzlei verweigert. Mit weiterem Antrag vom gleichen Tag hat der Kläger die Besorgnis der Befangenheit in der mündlichen Verhandlung damit begründet, X habe es zu Unrecht abgelehnt, das Verfahren auszusetzen, obwohl er, der Kläger, wegen einer Grippe dem Verfahren nicht mehr habe folgen können.
In seinen dienstlichen Erklärungen vom 7. März 1995 hat X sich in beiden Fällen nicht für befangen erklärt.
Mit Beschlüssen vom 7. März 1995 hat das Finanzgericht (FG) durch den Einzelrichter Y die Ablehnungsgesuche mit der Begründung zurückgewiesen, die Körperbehinderung des Klägers hindere ihn nicht daran, die Akten bei Gericht einzusehen und hätte der Kläger das Verfahren zügig und konzentriert durchgeführt, so wäre es lange vor der Entscheidung über den Ablehnungsantrag beendet gewesen; im übrigen hätte der Kläger, dessen Grippeerkrankung nicht erkennbar gewesen sei, rechtzeitig für einen Prozeßbevollmächtigten sorgen können.
Dagegen hat der Kläger die vorliegenden Beschwerden eingelegt, ohne diese zu begründen. Das FG hat den Beschwerden nicht abgeholfen und diese dem Senat zur Entscheidung vorgelegt (§ 130 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).
Entscheidungsgründe
Die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Beschwerden des Klägers (§ 73 Abs. 1 FGO) sind unbegründet. Das FG hat die Ablehnungsgesuche zu Recht verworfen.
Gemäß § 51 Abs. 1 FGO i. V. m. § 42 Abs. 1 und 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) findet die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Mißtrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Dies ist der Fall, wenn ein am Verfahren Beteiligter von seinem Standpunkt aus bei objektiver und vernünftiger Betrachtung davon ausgehen darf, daß der Richter nicht unvoreingenommen entscheiden werde; unerheblich ist dabei, ob ein solcher Grund wirklich vorliegt (z. B. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., 1993, § 51 Rz. 37, m. w. N.).
1. Die ablehnende Entscheidung, Steuerakten mit in die Kanzlei des Klägers zu geben, ist nicht geeignet, Mißtrauen in die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen. Diese Entscheidung entspricht vielmehr ständiger Rechtsprechung, wonach Rechtsanwälte im finanzgerichtlichen Verfahren grundsätzlich keinen Anspruch darauf haben, die Gerichts- und beiliegenden Steuerakten in ihrer Wohnung oder in ihren Geschäftsräumen einzusehen (s. etwa Senatsbeschluß vom 10. August 1978 IV B 20/77, BFHE 126, 1, BStBl II 1978, 677 und zuletzt Beschluß des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 31. August 1993 XI B 31/93, BFH/NV 1994, 187, m. w. N.; die Verfassungsbeschwerde gegen diesen Beschluß wurde vom Bundesverfassungsgericht [BVerfG] nicht zur Entscheidung angenommen: vgl. BVerfG-Beschluß vom 17. Dezember 1993 2 BvR 2622/93, nicht veröffentlicht).
Die nach § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO eröffnete Entscheidung darüber, ob die Akten einem Prozeßbevollmächtigten ausnahmsweise zur Einsicht in dessen Geschäftsräume überlassen werden können, ist im finanzgerichtlichen Verfahren eine Ermessensentscheidung. Dabei sind die gegen eine Aktenübersendung sprechenden Interessen (insbesondere Vermeidung von Aktenverlusten, Wahrung des Steuergeheimnisses gegenüber Dritten, jederzeitige Verfügbarkeit der Akten) gegenüber den Interessen des Prozeßbevollmächtigten an der Übersendung abzuwägen (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Beschluß vom 21. November 1991 VII B 55/91, BFH/NV 1992, 403, m. w. N.). Im Streitfall hat das FG diese Ermessensentscheidung getroffen und ausgeführt, der Kläger sei trotz einer Behinderung in der Lage, bei Gericht zu erscheinen und die Akten bei der Geschäftsstelle einzusehen. Mangels einer Begründung der Beschwerde kann der Senat in dieser Entscheidung des abgelehnten Richters keine Umstände erkennen, die ein Mißtrauen gegen dessen Unparteilichkeit rechtfertigen.
2. Soweit der Kläger sein Ablehnungsgesuch auf die verweigerte Aussetzung oder Vertagung des Verfahrens gestützt hat, ist es rechtsmißbräuchlich. Ihm fehlt deshalb ein Rechtsschutzbedürfnis mit der Folge, daß das Gesuch insoweit unzulässig ist.
Wird die Ablehnung eines Richters auf den Inhalt einer vorangegangenen Entscheidung des Richters gestützt, so genügt es für die Zulässigkeit des Ablehnungsgesuchs nicht, daß der Kläger allein Umstände anführt, die möglicherweise die Rechtswidrigkeit der vorangegangenen Entscheidung begründen könnten. Unzutreffende Rechtsauffassungen und Verfahrensfehler können die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit in der Regel nicht begründen (vgl. z. B. BFH-Beschlüsse vom 4. Juli 1995 V B 3/85, BFHE 144, 144, BStBl II 1985, 555, und vom 20. November 1990 VII B 32/90, BFH/NV 1991, 755, m. w. N.). Wäre die Ablehnung eines Richters allein mit der Begründung zulässig, dieser hätte an einer rechtsfehlerhaften Entscheidung mitgewirkt, so hätte es der Prozeßbeteiligte in der Hand, über den Umweg der Richterablehnung die gesetzlichen Regelungen über die Nichtanfechtbarkeit von Entscheidungen zu umgehen. Er könnte die nach ausdrücklicher gesetzlicher Regelung nicht mit der Beschwerde anfechtbaren Entscheidungen -- wie die Entscheidung über eine Vertagung oder Aufhebung eines Termins -- i. S. des § 128 Abs. 2 FGO mittelbar anfechten, weil die Entscheidung über die Richterablehnung mit der Beschwerde anfechtbar ist (§ 128 Abs. 1 FGO). Ein ausschließlich auf eine beanstandete vorausgegangene Entscheidung gestütztes Ablehnungsgesuch ist deshalb dann als rechtsmißbräuchlich anzusehen, wenn sich aus den Einzelheiten der Begründung und insbesondere aus der Art und Weise der Begründung keine Anhaltspunkte ergeben, die bei dem Prozeßbeteiligten von seinem Standpunkt aus bei vernünftiger, objektiver Betrachtung die Befürchtung rechtfertigen, der Richter werde voreingenommen entscheiden (vgl. BFHE 144, 144, BStBl II 1985, 555, m. w. N.).
Aus dem im Streitfall vom Kläger angeführten Grund für die Ablehnung, er habe wegen einer Grippeerkrankung dem Verfahren nicht mehr folgen können und deshalb eine Vertagung beantragt, läßt sich eine Besorgnis der Befangenheit nicht herleiten. Dieser Grund für die Ablehnung liegt nicht in einzelnen Verhaltensweisen des abgelehnten Richters, sondern jeweils im Inhalt der Entscheidung, die Sitzung nicht zu vertagen. Für die Richtigkeit der Annahme eines Mißbrauchs des auf die Ablehnung der Vertagung hin gestellten Ablehnungsgesuchs spricht schließlich die in den angefochtenen Beschlüssen des FG angeführte Tatsache, daß der Kläger ungeachtet der von ihm behaupteten, aber äußerlich nicht erkennbaren Grippeerkrankung, nicht gehindert war, seine Rechte auf seine Weise wahrzunehmen; auch hat er es unterlassen, sich angesichts der behaupteten Erkrankung, die nicht anfallsweise auftritt, eines Prozeßbevollmächtigten zu bedienen. Zu einer weiteren Überprüfung der angefochtenen Vorentscheidung besteht vor allem auch mangels jeglicher Begründung der vom Kläger eingelegten Beschwerde kein Anlaß.
Fundstellen