Entscheidungsstichwort (Thema)
Überraschungsentscheidung; Verbindung und Trennung von Verfahren
Leitsatz (NV)
1. Eine unzulässige Überraschungsentscheidung liegt auch dann nicht vor, wenn das FG im Urteil von einem von ihm unterbreiteten Einigungsvorschlag abweicht, dem die Beteiligten nicht gefolgt sind.
2. Beschlüsse über die Verbindung und Trennung von Verfahren (§ 73 FGO) können nach § 128 Abs. 2 FGO nicht mit der Beschwerde angefochten werden und unterliegen daher nicht der Beurteilung der Revision.
Normenkette
FGO §§ 73, 76, 96, 115 Abs. 2 Nrn. 1, 3, §§ 116, 124 Abs. 2, § 128 Abs. 2; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
FG Düsseldorf (Urteil vom 20.07.2005; Aktenzeichen 10 K 5800/00 E) |
Tatbestand
I. Das Finanzgericht (FG) hat die Klage der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) wegen Einkommensteuer 1988 abgewiesen, ohne die Revision zuzulassen. Das FG-Urteil wurde den Klägern am 16. August 2005 zugestellt. Hiergegen haben sie durch ihren Prozessbevollmächtigten innerhalb der Frist nach § 116 Abs. 2 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision eingelegt und darauf hingewiesen, die Begründung solle einem gesonderten Schriftsatz vorbehalten bleiben. Nachdem innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist keine Beschwerdebegründung beim Bundesfinanzhof (BFH) eingegangen war, wies der Vertreter des Senatsvorsitzenden den Prozessbevollmächtigten der Kläger mit einem am 3. November 2005 zugestellten Schreiben auf die Fristversäumnis und die Vorschrift des § 56 FGO hin.
Daraufhin übersandte der Prozessbevollmächtigte am 16. November 2005 eine Beschwerdebegründung und beantragte gleichzeitig Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Dazu trug er vor, er habe sich am 14. Oktober 2005 mit dem Steuerberater der Kläger zu einer abschließenden Besprechung getroffen und im Anschluss daran die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde abgefasst. Die Beschwerdebegründung sei am 15. Oktober 2005 von einer Mitarbeiterin, Frau N, geschrieben und nach Korrektur zwischen 10.00 Uhr und 10.15 Uhr am Postamt R-Straße in D abgegeben worden. Eine Auskunft bei dem Postamt R-Straße habe ergeben, dass samstags die Post um 10.30 Uhr und sonntags um 9.00 Uhr in das Verteilungszentrum in L weitergegeben werde. Zudem sei nach Auskunft der Deutschen Post AG bei normalem Postverlauf damit zu rechnen, dass Briefe, die am Samstag bis 14.00 Uhr eingereicht werden, am Montag bis gegen 12.00 Uhr in das Postfach des Empfängers in München gelangen. Nach der vorgelegten eidesstattlichen Versicherung der Mitarbeiterin des Prozessbevollmächtigten hat diese die Beschwerdebegründung wegen der Eilbedürftigkeit der Angelegenheit am Morgen des 15. Oktober 2005 außerhalb ihrer Dienstzeit geschrieben und den Schriftsatz, der vom Prozessbevollmächtigten unterzeichnet worden war, zwischen 10.10 Uhr und 10.15 Uhr in Begleitung ihres Ehemannes in den Briefkasten des Postamtes R-Straße eingeworfen.
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) wendet sich nicht gegen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Beschwerdebegründungsfrist.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unzulässig und daher zu verwerfen.
1. Es kann offen bleiben, ob den Klägern wegen der versäumten Frist für die Begründung der Beschwerde (§ 116 Abs. 3 FGO) nach § 56 FGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, obwohl ihr Prozessbevollmächtigter nicht durch Vorlage eines Postausgangsbuches oder einer sonstigen, zeitnah zu der angeblich rechtzeitigen Absendung der Beschwerdebegründung gefertigten schriftlichen Notiz über diesen Vorgang die zeitgerechte Absendung der Beschwerdebegründung nachgewiesen hat (vgl. hierzu BFH-Beschluss vom 26. Februar 1998 III R 66/97, BFH/NV 1998, 1231). Denn die Beschwerde wäre auch dann, wenn den Klägern Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt würde, unzulässig, weil nicht nach Maßgabe des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO dargelegt ist, dass die Voraussetzungen für die geltend gemachten Zulassungsgründe des § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 3 FGO vorliegen.
2. Die Kläger haben die von ihnen im Beschwerdeverfahren behauptete grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und die behaupteten Verfahrensfehler nicht in der nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO gebotenen Weise dargelegt.
a) Die schlüssige Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache erfordert ein konkretes und substantiiertes Eingehen des Beschwerdeführers darauf, inwieweit die von ihm aufgeworfene Rechtsfrage im allgemeinen Interesse klärungsbedürftig, d.h. in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen sie umstritten ist (vgl. z.B. Senatsbeschluss vom 19. November 2002 X B 117/01, juris Nr: STRE200251200, m.w.N.; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl. 2002, § 116 Rz. 32, m.w.N.).
Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht. Die Ausführungen der Kläger beschränken sich darauf, sinngemäß die Frage aufzuwerfen, ob das FG bei der Höhe der Zuschätzung den Umstand hätte berücksichtigen müssen, dass die Klägerin, die im Streitjahr und den Folgejahren ihren Gewinn aus Gewerbebetrieb nach § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes ermittelt habe, im Jahr 1995 zum Betriebsvermögensvergleich übergegangen sei, die nachzuentrichtende Umsatzsteuer in die Ermittlung des Übergangsgewinns nicht eingeflossen und eine Korrektur nicht mehr möglich sei. Ihre Ausführungen lassen keine über das Interesse der Kläger am Ausgang dieses Verfahrens hinausreichende, allgemein interessierende, klärungsbedürftige und in diesem Rechtsstreit klärungsfähige Rechtsfrage erkennen (vgl. zu den Darlegungserfordernissen näher: BFH-Beschlüsse vom 18. November 1998 VIII B 101/97, BFH/NV 1999, 650; vom 2. Dezember 1998 X B 115/98, BFH/NV 1999, 943, und vom 13. Januar 1999 XI B 80/98, BFH/NV 1999, 948). Zudem haben es die Kläger auch versäumt, sich in der Beschwerdebegründungsschrift mit der einschlägigen Rechtsprechung und Literatur auseinander zu setzen.
b) Soweit die Kläger beanstanden, das FG habe sich nicht hinreichend mit ihrem Vortrag auseinander gesetzt, genügt die Beschwerdebegründung nicht den Erfordernissen einer Sachaufklärungsrüge. Es fehlen substantiierte Ausführungen darüber,
- aus welchen (genau bezeichneten) Gründen sich dem FG die Notwendigkeit einer weiteren Sachaufklärung (Beweiserhebung) auch ohne entsprechenden Antrag aufdrängen musste,
- welche (entscheidungserheblichen) Tatsachen sich bei einer weiteren Sachaufklärung voraussichtlich ergeben hätten und
- inwiefern eine weitere Aufklärung des Sachverhalts auf der Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des FG zu einer anderen Entscheidung hätte führen können
(ständige Rechtsprechung des BFH, vgl. z.B. die Nachweise bei Gräber/Ruban, a.a.O., § 120 Rz. 70).
Ihre Einwände erschöpfen sich --nach Art einer Revisionsbegründung-- in kritischen Äußerungen darüber, dass und warum die vom FG vorgenommene rechtliche Beurteilung und tatsächliche Würdigung des Streitfalles unrichtig sei. Hinweise gegen die Richtigkeit von Steuerschätzungen (Verstöße gegen anerkannte Schätzungsgrundsätze, Denkgesetze und Erfahrungssätze sowie materielle Rechtsfehler) sind im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren jedoch unbeachtlich (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 22. Dezember 2000 XI B 128/99, BFH/NV 2001, 800).
c) Eine Überraschungsentscheidung und damit ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 76 FGO und § 96 Abs. 2 FGO liegt vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt gestützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1991 1 BvR 1383/90, BVerfGE 84, 188; BFH-Beschlüsse vom 15. März 2002 X B 175/01, BFH/NV 2002, 944, und vom 2. April 2002 X B 56/01, BFH/NV 2002, 947). Bezieht sich der geltend gemachte Gehörsverstoß --wie im Streitfall-- nicht auf das Gesamtergebnis des Verfahrens, sondern nur mehr auf einzelne Feststellungen, muss der Beschwerdeführer zudem vortragen, was er bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch zusätzlich vorgetragen hätte und dass bei Berücksichtigung des übergangenen Vorbringens eine andere Entscheidung in der Sache möglich gewesen wäre (vgl. z.B. Gräber/Ruban, a.a.O., § 119 Rz. 14, m.w.N.). Daran mangelt es im Streitfall.
Das angefochtene Urteil ist auch nicht deshalb als unzulässige Überraschungsentscheidung zu beurteilen, weil es im Ergebnis von Einigungsvorschlägen abweicht, die das FG nach Durchführung des Erörterungstermins im Schriftsatz vom 29. März 2005 unterbreitet hat, denen die Beteiligten aber nicht gefolgt sind. Eine tatsächliche Verständigung, wie sie das FG angeregt hat, folgt ersichtlich anderen Prinzipien als die das finanzgerichtliche Klageverfahren abschließende Entscheidung. Dient der Vergleich vorrangig der Verfahrensbeschleunigung und dem Rechtsfrieden (BFH-Urteil vom 11. Dezember 1984 VIII R 131/76, BFHE 142, 549, BStBl II 1985, 354), so beruht das Urteil auf der aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung des Gerichts unter Beachtung der Grundsätze der Beweislast (§ 76 Abs. 1, § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) und des rechtlichen Gehörs (§ 96 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 FGO). Der Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör ist aber durch die angefochtene Entscheidung nicht verletzt worden. Zudem weicht die Entscheidung des FG im Streitjahr 1988 nicht vom Einigungsvorschlag des Gerichts ab.
d) Der Hinweis, das FG habe ihrer Ansicht nach willkürlich ein einheitliches Klagebegehren in fünf Klageverfahren aufgespalten, führt ebenfalls nicht zur Zulassung der Revision. Beschlüsse über die Verbindung und Trennung von Verfahren (§ 73 FGO) können nach § 128 Abs. 2 FGO nicht mit der Beschwerde angefochten werden und unterliegen daher nicht der Beurteilung der Revision (§ 124 Abs. 2 FGO). Deshalb kann eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht auf eine angeblich fehlerhafte Verfahrenstrennung gestützt werden.
Fundstellen
Haufe-Index 1493503 |
BFH/NV 2006, 972 |
AO-StB 2006, 141 |