Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung wegen beantragtem Billigkeitserlaß
Leitsatz (NV)
1. Die endgültige Einstellung der Zwangsvollstreckung ist über § 258 AO 1977 nicht zu erreichen.
2. Zur Glaubhaftmachung, daß wegen eines beantragten, aber noch nicht bewilligten Billigkeitserweises die Zwangsvollstreckung unbillig ist, bedarf es der Darlegung, daß sich der Ermessensrahmen der Verwaltung auf Null eingeschränkt hat.
Normenkette
AO 1977 § 258; FGO § 114
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Antragstellerin und ihr - 1976 verstorbener - Ehemann wurden getrennt zur Einkommensteuer 1974 veranlagt. Dabei ergaben sich gegen den Ehemann Steuernachforderungen. 1975 erfolgte eine Zusammenveranlagung, die zu Nachforderungen an Einkommensteuer und Kirchensteuer führte. Die Antragstellerin schlug trotz Überschuldung des Nachlasses ihres Ehemannes den auf sie entfallenden hälftigen Erbteil nicht aus und machte auch von der Möglichkeit der Beschränkung der Erbenhaftung keinen Gebrauch. Das FA nahm sie für die Steuerrückstände in Anspruch. Im Zeitpunkt des Erlasses der Vorentscheidung waren durch Umbuchung von Steuererstattungsansprüchen, durch Gehaltspfändungen und mittels eines Teils des Veräußerungserlöses aus einem von der Familie der Antragstellerin bis zum Tode des Ehemannes bewohnten Einfamilienhauses die aus 1974 herrührenden Steuerschulden zum überwiegenden Teil bezahlt. Die Antragstellerin begehrt im Hauptverfahren den Erlaß der Rückstände aus Billigkeitsgründen. Das FA lehnte den Antrag ab; die Oberfinanzdirektion (OFD) als Beschwerdebehörde bestätigte diesen Bescheid. Mit ihrer dagegen erhobenen Klage macht die Antragstellerin in erster Linie sachliche Billigkeitsgründe geltend.
Da das FA während des noch schwebenden Hauptverfahrens die laufende Pfändung des Gehalts der Antragstellerin in Höhe von monatlich 997 DM aufrechterhalten hat, beantragte die Antragstellerin beim FG, das FA im Wege einstweiliger Anordnung anzuweisen, bis zur endgültigen Entscheidung über den Erlaßantrag von Vollstreckungsmaßnahmen abzusehen. Als Anordnungsgrund führte die Antragstellerin vor dem FG an, daß ihre Ausgaben für Wohnung, Versicherungen, Haushaltshilfe, Benzin, Unterstützung der Tochter, Telefon und dergleichen monatlich rd. 3 200 DM betrügen, so daß ihr nach der Pfändung noch monatlich 860 DM für den übrigen Lebensunterhalt verblieben. Davon müsse sie auch einen Sohn unterhalten, der demnächst sein Studium beginnen werde. Die Pfändung führe daher zu einer nicht wieder gutzumachenden Beeinträchtigung ihrer Lebensführung.
Das FG lehnte den Antrag mit der Begründung ab, es fehle an einem Anordnungsgrund. § 114 Abs. 1 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gewähre Dringlichkeitsrechtsschutz nur für solche Fälle, in denen dem Antragsteller unerträgliche oder nicht wieder gutzumachende Nachteile selbst bei einem späteren Obsiegen im Hauptverfahren drohten. Eine solche Gefährdung liege nicht vor.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist nicht begründet.
Der Erlaß einer einstweiligen Anordnung setzt voraus, daß ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht worden sind (§ 114 Abs. 3 FGO i.V.m. § 920 der Zivilprozeßordnung - ZPO -). Im Streitfall fehlt es zumindest an der Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruches. . . .
Als Rechtsgrundlage für den Anordnungsanspruch kommt allein § 258 AO 1977 in Betracht. Zu berücksichtigen ist dabei, daß die Einstellung der Vollstreckung durch das FA nach dieser Vorschrift in dessen Ermessen gestellt ist (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 10. August 1976 VII R 111/74, BFHE 120, 13, 16, BStBl II 1977, 104, das zu dem gleichlautenden § 333 der Reichsabgabenordnung - AO - ergangen ist). Wird nun im Verwaltungsvollstreckungsverfahren als vorläufiger Rechtsschutz durch ein Gericht die Verpflichtung der Behörde zur einstweiligen Einstellung der Zwangsvollstreckung im Wege der einstweiligen Anordnung verlangt, so kann Streitgegenstand nur die nach § 258 AO 1977 in das Ermessen der Behörde gestellte Befugnis zur Gewährung einer vorläufigen Vollstreckungsaussetzung sein. Unter welchen Voraussetzungen dieser vorläufige Rechtsschutz durch ein Gericht erlangt werden kann, ist, da der Anordnungsanspruch eine behördliche Ermessensentscheidung betrifft, umstritten (vgl. Beschluß des erkennenden Senats vom 5. und 13. Mai 1977 VII B 9/77, BFHE 122, 28, BStBl II 1977, 587). Im Streitfall braucht nicht entschieden zu werden, welcher der vertretenen Auffassungen zu folgen ist. Auch wenn der Entscheidung über die einstweilige Anordnung die für die Antragstellerin günstigste Auffassung zugrunde gelegt wird, nämlich die, daß das Gericht befugt ist, die einstweilige Anordnung in Ausübung eigenen Ermessens (,,Interimsermessen") zu treffen, ist die einstweilige Anordnung im Streitfall zu versagen; denn in Anwendung dieses Ermessens gelangt der erkennende Senat zu dem Ergebnis, daß die beantragte Anordnung nicht gerechtfertigt ist, weil ihre Voraussetzungen nicht glaubhaft gemacht sind.
Voraussetzung für die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 258 AO 1977 ist, daß im Einzelfall die Vollstreckung unbillig ist. Eine endgültige Untersagung der Zwangsvollstreckung ermöglicht § 258 AO 1977 nicht. Nur vorläufige Maßnahmen der Vollstreckungsbehörde sind das Ziel (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 18. April 1975 VII C 15.73, BStBl II 1975, 679, 684). Folglich kommt es für § 258 AO 1977 darauf an, daß die Zwangsvollstreckung vorübergehend unbillig ist. Ist es schlechthin unbillig, den Anspruch geltend zu machen, so ist der Erlaß nach § 227 AO 1977 geboten (vgl. auch Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 258 AO 1977 Anm. 3).
Ansatzpunkt für die Annahme, die gegenüber der Antragstellerin durchgeführte Vollstreckung durch das FA sei vorübergehend unbillig i. S. des § 258 AO 1977, kann demnach nur der Umstand sein, daß über den Antrag der Antragstellerin, ihr die bestandskräftig festgesetzten Steuern aus Billigkeitsgründen zu erlassen, die Verwaltung noch nicht bestandskräftig entschieden hat, sondern diese Frage noch Gegenstand des Hauptverfahrens ist. Allein die Darlegung der rechtlichen Möglichkeit, daß es zu dem begehrten Steuererlaß kommt, vermag das Vorliegen des Anordnungsanspruches nicht glaubhaft zu machen. Allenfalls könnten die Vollstreckungsmaßnahmen des FA vor endgültiger Entscheidung über den Erlaßantrag der Antragstellerin dann als unbillig i. S. des § 258 AO 1977 angesehen werden, wenn mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit mit dem beantragten Erlaß zu rechnen wäre (vgl. auch Beschlüsse des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 21. Januar 1982 VIII B 94/79, BFHE 135, 23, 26, BStBl II 1982, 307, und vom 6. Oktober 1982 I R 98/81, BFHE 138, 1, 2, BStBl II 1983, 397). So liegt der Fall hier aber nicht.
Das FA hat den Billigkeitserlaß der Klägerin bereits abgelehnt. Die zuständige OFD hat diesen Bescheid bestätigt. Da der beantragte Erlaß in das Ermessen der Verwaltung gestellt ist, kann im Rahmen des von der Antragstellerin angestrengten Rechtsmittelverfahrens das FG die Rechtmäßigkeit der ablehnenden Entscheidung der Verwaltung nur daraufhin überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (§ 102 FGO). Auch das Vorbringen der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß die Entscheidung der Verwaltung über den Erlaßantrag ermessensfehlerhaft war. Zur Darlegung der Wahrscheinlichkeit, daß das FG entsprechend entscheiden würde, hätte es des Vorbringens von Tatsachen bedurft, aus denen sich ergibt, daß sich der Ermessensrahmen der Verwaltung in diesem Fall auf Null eingeschränkt hatte, also nur noch die Gewährung des beantragten Erlasses als Rechtens angesehen werden kann.
Fundstellen
Haufe-Index 413802 |
BFH/NV 1986, 68 |