Entscheidungsstichwort (Thema)
Im PKH-Verfahren: Zur Hemmungswirkung eines vorläufigen Bescheides; Fortfall der Ungewißheit
Leitsatz (NV)
1. Kenntnis i.S. von § 171 Abs. 8 AO 1977 ist das positive Wissen der Finanzbehörde von der Beseitigung der Ungewißheit; ein bloßes Kennenmüssen von Tatsachen, die das FA bei pflichtgemäßer Ermittlung erfahren hätte, steht der Kenntnis nicht gleich (Anschluß an BFH-Urteil vom 26. August 1992 II R 107/90, BFHE 169, 9, BStBl II 1993, 5).
2. Eine Ungewißheit kann auch dann i.S. von § 165 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 beseitigt sein, wenn das FA aufgrund einer Verminderung des Beweismaßes zu Lasten des Steuerpflichtigen entscheidet.
Normenkette
AO 1977 § 175 Abs. 2 S. 2, § 171 Abs. 8
Tatbestand
Die Kläger, Antragsteller und Beschwerdeführer (Kläger) erwarben im Jahre 1980 im Rahmen eines Bauherrenmodells zwei Eigentumswohnungen, die im Frühjahr 1983 bezugsfertig wurden. Hinsichtlich der geplanten Vermietungsumsätze optierten sie für die Steuerpflicht und gleichzeitig für die Regelbesteuerung. Am 13. April 1982 reichten sie die Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre 1980 und 1981 ein, mit denen sie in Rechnung gestellte Vorsteuern in Höhe von 4316,31 DM (1980) und 7178,31 DM (1981) erklärten. Der Beklagte (das Finanzamt - FA -) setzte mit Bescheiden vom 25. August 1982 negative Umsatzsteuer in Höhe dieser Beträge fest; die Bescheide ergingen ohne nähere Erläuterung in vollem Umfang als vorläufig gemäß § 165 der Abgabenordnung (AO 1977). Die Wohnungen wurden im Jahre 1984 zwangsversteigert.
Im Zuge einer Außenprüfung bei der Bauherrengemeinschaft ermittelte der Prüfer auf die Kläger entfallende Vorsteuern für 1980 in Höhe von 3693 DM; nur für eine der beiden Wohnungen lägen die Voraussetzungen für eine Option nach § 9 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) 1980 - Vermietung an eine ...GmbH - vor. Ab Ende 1986 bemühte sich das FA ohne Erfolg, von den Klägern Einsicht in die Mietverträge zu erhalten. Mit Bescheid vom 29. Juni 1990 hob es unter Hinweis auf § 165 Abs. 2 AO 1977 die Umsatzsteuerbescheide für 1980 und 1981 ersatzlos auf. Auf den hiergegen eingelegten Einspruch setzte es mit Entscheidung vom 26. August 1992 unter Berücksichtigung einer vermieteten Wohnung negative Umsatzsteuer in Höhe von ./. 1897 DM (1980) und ./. 3690 DM (1981) fest. Mit der Klage beantragen die Kläger, die Umsatzsteuer wie in den Bescheiden vom 25. August 1982 festzusetzen; die als Aufhebungsbescheid bezeichnete Verfügung hätte wegen zwischenzeitlich eingetretener Festsetzungsverjährung nicht ergehen dürfen. Sie, die Kläger, würden sich bemühen, für den Abschluß eines weiteren Mietverhältnisses Zeugen zu benennen.
Das Finanzgericht (FG) hat es abgelehnt, den Klägern für das Klageverfahren Prozeßkostenhilfe (PKH) unter Beiordnung ihrer Prozeßbevollmächtigten zu gewähren.
Entscheidungsgründe
Die hiergegen gerichtete Beschwerde, mit welcher die Kläger diesen Antrag weiterverfolgen, ist unbegründet; die beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 142 der Finanzgerichtsordnung - FGO - i.V.m. § 114 der Zivilprozeßordnung - ZPO -).
Der Ablauf der Festsetzungsfrist war im Zeitpunkt der Aufhebung der vorläufigen Umsatzsteuerbescheide vom 25. August 1982 noch gehemmt.
Für den Eintritt der Wirkungen der vorläufigen Festsetzung ist es unerheblich, ob die vorläufigen Festsetzungen zu Recht ergangen und ob die Vorläufigkeitsvermerke ausreichend begründet waren; denn die Bescheide sind bestandskräftig geworden. Gründe dafür, daß die Vorläufigkeitsvermerke hätten nichtig sein können, sind nicht ersichtlich (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 26. August 1992 II R 107/90, BFHE 169, 9, 11, BStBl II 1993, 5, m.w.N. der Rechtsprechung). Nach § 171 Abs. 8 AO 1977 endete im Streitfall die Festsetzungsfrist nicht vor Ablauf eines Jahres nach Kenntnis des FA über die Beseitigung der Ungewißheit. Kenntnis i.S. von § 171 Abs. 8 AO 1977 ist das positive Wissen der Finanzbehörde von der Beseitigung der Ungewißheit; ein bloßes Kennenmüssen von Tatsachen, die das FA bei pflichtgemäßer Ermittlung erfahren hätte, steht der Kenntnis nicht gleich (Urteil in BFHE 169, 9, 11f., BStBl II 1993, 5). Die Frage der ersten Verwendung der zweiten Wohnung zu nicht abzugsschädlichen Umsätzen (§ 15 Abs. 2 UStG) war und ist ungewiß.
Die Auffassung des FG, eine Aufhebung bzw. Änderung der ursprünglichen Steuerfestsetzung gemäß § 165 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 sei damals und heute im Hinblick auf die andauernde Ungewißheit nicht zulässig gewesen, ist unzutreffend. Das FA konnte nach seinen erfolglosen Versuchen, die Kläger zur Mitwirkung bei der Aufklärung des Sachverhalts anzuhalten, davon ausgehen, daß diese abzugsschädliche Umsätze getätigt haben. Es liegt in der Natur einer solchen vorläufigen Einzelfallregelung, daß die Anforderungen an die Sachaufklärung und an das Beweismaß je nach Fallgestaltung (§ 88 Abs. 1 Satz 2 AO 1977) herabgemindert sind. Nach Sachlage konnten außerdem aus dem bisherigen Verhalten der Kläger für diese nachteilige Schlüsse gezogen werden, die zu einer weiteren Begrenzung der Sachaufklärungspflicht und des Beweismaßes führten (vgl. Senatsurteil vom 15. Februar 1989 X R 16/86, BFHE 156, 38, BStBl II 1989, 462). Auf die Ausführungen des FG zu einer Änderung auf der Rechtsgrundlage des § 165 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 kommt es hiernach nicht an.
Fundstellen
Haufe-Index 419327 |
BFH/NV 1994, 148 |