Entscheidungsstichwort (Thema)
Versagung der Akteneinsicht als Grund für Richterablehnung; Mitwirkung des abgelehnten Richters bei Entscheidung über Ablehnungsgesuch
Leitsatz (NV)
1. Es bildet weder einen Ablehnungsgrund, wenn der Vorsitzende Richter am FG in einem zur Entscheidung heranstehenden Verfahren Akteneinsicht nicht bei einem FA, sondern nur beim FG gewährt, noch, wenn die Akten am Tag der mündlichen Verhandlung nicht zunächst für die Anfertigung von Kopien eines großen Teils des Akteninhalts bereitgestellt werden.
2. Der BFH kann als Beschwerdegericht in dem Verfahren auch dann selbst entscheiden, wenn der abgelehnte Richter zu Unrecht selbst über das Befangenheitsgesuch entschieden hat.
Normenkette
FGO § 51 Abs. 1, § 78; ZPO § 42 Abs. 2, § 47
Tatbestand
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) hat beim Finanzgericht (FG) Klagen wegen Einkommensteuer 1977 bis 1980, wegen Einkommensteuer 1981 und wegen Einkommensteuer 1982 erhoben, die das FG nach mündlicher Verhandlung mit Urteilen vom 20. Oktober 1997 abgewiesen hat. Hiergegen richten sich die beim erkennenden Senat anhängigen Revisionen, über die noch nicht entschieden ist.
Zugleich mit Erhebung der Klagen hatte der Kläger gebeten, ihm im jeweiligen Verfahren Akteneinsicht durch Übermittlung der Akten an das Finanzamt A zu gewähren.
Am 25. August 1997 lud der Vorsitzende Richter am FG X zur mündlichen Verhandlung am 20. Oktober 1997 um 11.30 Uhr und teilte dem Kläger mit, er könne die dem FG vorliegenden Akten bei der Geschäftsstelle des FG einsehen.
Am Tag der mündlichen Verhandlung erfuhr X in der ersten Sitzungspause kurz vor 11 Uhr, daß sich der Kläger und sein Prozeßbevollmächtigter seit 10 Uhr im Gericht befanden und die Akten einsehen wollten, die sich bereits im Beratungszimmer befanden. X veranlaßte daraufhin, daß ihnen der Urlaubsvertreter des zuständigen Geschäftsstellenleiters Akteneinsicht ermöglichte. Als X in der nächsten Sitzungspause gegen 11.15 Uhr erfuhr, daß der Kläger einen großen Teil der Akten abgelichtet haben wollte, ließ X dem Kläger mitteilen, dem Begehren könne nicht (mehr) entsprochen werden, weil er, X, die Akten zu der auf 11.40 Uhr verschobenen Verhandlung in den Streitsachen benötige.
Zu Beginn der mündlichen Verhandlung im vorliegenden Rechtsstreit lehnte der Kläger den Vorsitzenden Richter X wegen Besorgnis der Befangenheit ab mit der Begründung, dieser habe ihn am Tag der mündlichen Verhandlung bei der Akteneinsicht behindert und dadurch den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt.
Das FG hat mit Beschluß vom 20. Oktober 1997 das Befangenheitsgesuch als rechtsmißbräuchlich und deshalb unzulässig verworfen.
Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers habe wissen können, daß er, um sicherzustellen, daß die Akten bei der Geschäftsstelle zur Einsicht bereit liegen, sich wegen des Termins der Akteneinsicht mit der Geschäftsstelle hätte in Verbindung setzen müssen. Der Kläger und sein Prozeßbevollmächtigter hätten nach Auskunft des bei der Akteneinsicht anwesenden Geschäftsstellenbeamten zwar auch zu kopierende Aktenteile mit Bleistift markiert, aber hauptsächlich Prozeßverzögerungsmöglichkeiten erörtert. Im übrigen habe der Prozeßbevollmächtigte in den (einen anderen Kläger betreffenden) Verfahren die Möglichkeit der Akteneinsicht nicht wahrgenommen und in einem Gespräch mit X eingeräumt, das Befangenheitsgesuch gegen X in diesen Verfahren nur aus prozeßtaktischen Gründen angebracht zu haben.
Hiergegen richtet sich die vorliegende Beschwerde. Zur Begründung der Beschwerde beantragte der Kläger Akteneinsicht beim Finanzamt A. Von der ihm vom Vorsitzenden des erkennenden Senats antragsgemäß eingeräumten Möglichkeit haben der Kläger und sein Prozeßbevollmächtigter am 8. Juni 1998 Gebrauch gemacht. Eine Begründung der Beschwerde ist bis heute nicht eingegangen.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unbegründet.
1. Nach §51 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. §42 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) kann ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Mißtrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Dabei kommt es nach ständiger Rechtsprechung darauf an, ob der Beteiligte von seinem Standpunkt aus bei vernünftiger und objektiver Betrachtung davon ausgehen darf, der Richter werde nicht unvoreingenommen, sondern willkürlich entscheiden (z.B. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 4. Juli 1985 V B 3/85, BFHE 144, 144, BStBl II 1985, 555; vom 24. November 1994 X B 146-149/94, BFH/NV 1995, 692; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., §51 Rz. 37, m.w.N.).
Verfahrensverstöße oder sonstige Rechtsfehler eines Richters sind grundsätzlich kein Ablehnungsgrund (z.B. Senatsentscheidung in BFH/NV 1995, 692; Gräber, a.a.O., §51 Rz. 39a ff., m.w.N.). Sie können eine Besorgnis der Befangenheit ausnahmsweise dann rechtfertigen, wenn Gründe dargetan sind, die dafür sprechen, daß die Fehlerhaftigkeit auf einer unsachlichen Einstellung des Richters gegenüber dem ihn ablehnenden Beteiligten beruht (z.B. Senatsbeschluß vom 6. Februar 1996 X B 95/95, BFH/NV 1996, 752).
2. Bei Anwendung dieser Grundsätze liegt ein Ablehnungsgrund nicht vor.
Die Entscheidung des abgelehnten Vorsitzenden Richters, Akteneinsicht nicht am gewünschten Ort, sondern beim FG zu gewähren, ist, selbst wenn sie fehlerhaft gewesen wäre, kein Ablehnungsgrund. Unter keinen Umständen auf eine unsachliche Einstellung des Richters schließen läßt dessen Weigerung am Tag der mündlichen Verhandlung über den Streitfall, die Akten für die vom Kläger verlangte Anfertigung von Kopien eines großen Teils des Akteninhalts weiter bereitzustellen, obwohl sie für die unmittelbar bevorstehende Verhandlung benötigt wurden; denn diese Entscheidung ist ohne weiteres selbst für einen -- anders als im Streitfall -- nicht vertretenen, prozeßunerfahrenen Beteiligten nachvollziehbar.
Andere Ablehnungsgründe hat der Kläger nicht vorgetragen.
3. Es bedarf keiner Stellungnahme dazu, ob der abgelehnte Richter bei der Entscheidung über das ihn betreffende Ablehnungsgesuch mitwirken durfte. Gemäß §51 FGO Abs. 1 i.V.m. §47 ZPO entscheidet das Gericht über das Ablehnungsgesuch grundsätzlich ohne den abgelehnten Richter. Eine Ausnahme hiervon hat der BFH zugelassen für die Fälle, in denen das Ablehnungsgesuch rechtsmißbräuchlich ist (z.B. BFH- Beschlüsse vom 2. Juli 1976 III R 24/74, BFHE 119, 227, BStBl II 1976, 627; vom 23. Februar 1994 IV B 79/93, BFH/NV 1994, 877, m.w.N.). Der Senat kann diese Frage offenlassen; denn als Beschwerdegericht darf er im Verfahren der Richterablehnung unabhängig von etwaigen Besetzungsmängeln der Vorinstanz in der Sache selbst entscheiden und braucht deshalb die Sache nicht an das FG zurückverweisen (BFH-Beschlüsse vom 26. September 1989 VII B 75/89, BFH/NV 1990, 514; in BFH/NV 1994, 877).
Fundstellen
Haufe-Index 154055 |
BFH/NV 1999, 327 |