Entscheidungsstichwort (Thema)
Richterablehnung; Akteneinsicht
Leitsatz (NV)
1. Mit der Fehlerhaftigkeit einer vorausgegangenen Entscheidung allein kann ein Ablehnungsgesuch nicht begründet werden. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn die beanstandete verfahrensrechtliche Entscheidung unter Berücksichtigung der Prozeßlage auch für einen objektiven Dritten nicht mehr nachvollziehbar ist.
2. Lehnt der Vorsitzende eine Versendung der Akten kurz vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung im Interesse der ständigen Verfügbarkeit der Akten zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung ab und verweist er auf die Möglichkeit, die Akten bei der Geschäftsstelle des Senats einzusehen, ist diese Entscheidung nicht ermessensfehlerhaft, wenn nicht ausnahmsweise besondere Gründe vorliegen.
Normenkette
FGO §§ 51, 78; ZPO § 42ff
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) hat, vertreten durch seinen Prozeßbevollmächtigten, Untätigkeitsklage wegen Einkommensteuer 1989 gemäß § 46 der Finanzgerichtsordnung (FGO) erhoben. Über diese Klage ist noch nicht entschieden.
Die Ladung zur mündlichen Verhandlung am 12. November 1991 wurde dem Prozeßbevollmächtigten ausweislich der Postzustellungsurkunde am 20. September 1991 zugestellt. Mit einem auf den 23. Oktober 1991 datierten Schriftsatz, der dem Finanzgericht (FG) durch Telebrief am 27. Oktober 1991 übermittelt wurde, beantragte der Prozeßbevollmächtigte Akteneinsicht u.a. in allen Klagesachen, die für den 12. November 1991 terminiert waren. Der Vorsitzende des FG teilte dem Prozeßbevollmächtigten mit Schreiben vom 28. Oktober 1991 mit, daß die Akten wegen des bevorstehenden Termins nicht mehr versandt werden könnten. Er stellte dem Prozeßbevollmächtigten jedoch anheim, die Akten bei der Geschäftsstelle des FG einzusehen. Mit einem auf den 30. Oktober 1991 datierten Schreiben, das beim FG am 8. November 1991 einging, beantragte der Prozeßbevollmächtigte erneut Akteneinsicht beim Amtsgericht. Mit Telebrief am 8. November 1991 wies der Vorsitzende nochmals darauf hin, daß die Übersendung der Akten aus Zeitgründen nicht mehr möglich sei, daß der Prozeßbevollmächtigte die Akten jedoch bei der Geschäftsstelle einsehen könne. Von dieser Möglichkeit hat dieser keinen Gebrauch gemacht.
In der mündlichen Verhandlung lehnte der Prozeßbevollmächtigte im Namen des Klägers mit dem 15. Ablehnungsgesuch den Vorsitzenden Richter am FG wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Er stützte das Ablehnungsgesuch darauf, ihm sei keine Akteneinsicht gewährt worden. Obwohl es ohne weiteres möglich gewesen sei, die Akten per Eilboten ans Amtsgericht zu übermitteln, habe der Vorsitzende, der nur seine eigene Bequemlichkeit und seine eigenen Interessen verfolge, dies verhindert.
Der Vorsitzende Richter am FG erklärte sich in einer dienstlichen Äußerung vom 12. November 1991 nicht für befangen.
Das FG wies das Ablehnungsgesuch ohne Mitwirkung des abgelehnten Richters zurück. Das FG ließ offen, ob das Ablehnungsgesuch unzulässig sei, jedenfalls sei es unbegründet.
Gegen die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs richtet sich die Beschwerde des Klägers, die er entgegen seiner Ankündigung nicht begründet hat.
In der Beschwerdeschrift lehnte der Kläger für die zunächst nach § 130 Abs. 1 FGO zu treffende Abhilfeentscheidung die geschäftsplanmäßig zuständigen Richter und weiter den offenbar für den Fall des Ausscheidens einer dieser Richter zuständigen Richter am FG X wegen Besorgnis der Befangenheit ab, ohne Gründe für dieses Ablehnungsgesuch vorzutragen.
Das FG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
Entscheidungsgründe
1. Der Senat kann über die Beschwerde entscheiden, obwohl in bezug auf die Richter, die daran mitgewirkt haben, ein Ablehnungsgesuch gestellt worden war.
a) Der Beschluß des FG über die Nichtabhilfe ist ungeachtet dieses Ablehnungsgesuchs wirksam. Der Senat verweist zur Vermeidung von Wiederholungen auf seinen Beschluß vom 2. Dezember 1992 X B 66/92, BFH/NV 1994, 31.
b) Selbst wenn der Kläger sein Ablehnungsgesuch für die Abhilfeentscheidung begründet hätte und die Ablehnung der Richter berechtigt wäre, hätte dies nicht zur Folge, daß die Sache an das FG zu einer erneuten Abhilfeentscheidung ohne Mitwirkung der erfolgreich abgelehnten Richter zurückzuverweisen wäre.
Allerdings ist auch im Beschwerdeverfahren eine Zurückverweisung zulässig (z.B. Gräber/Ruban, Finanzerichtsordnung, 2. Aufl., § 132 Rz. 10 mit Hinweisen auf die ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs - BFH -). Sie ist jedoch nicht zwingend. Als zur Ermittlung des Sachverhalts und dessen Würdigung befugtes Beschwerdegericht darf der BFH grundsätzlich auch dann in der Sache selbst entscheiden, wenn die Vorentscheidung an einem wesentlichen Verfahrensmangel i.S. des § 119 FGO leidet. Selbst wenn deshalb das FG bei einer Entscheidung über ein Befangenheitsgesuch nicht ordnungsgemäß besetzt war, könnte der Senat die Sache zwar an das FG zurückverweisen (vgl. BFH-Beschluß vom 8. Juli 1983 VI B 69/82, nicht veröffentlicht - NV -), müßte es aber nicht (BFH-Beschluß vom 26. September 1989 VII B 75/89, BFH/NV 1990, 514; vgl. § 155 FGO i.V.m. § 539 der Zivilprozeßordnung - ZPO -). Für die Nichtabhilfeentscheidung, die lediglich zur Folge hat, daß das Beschwerdeverfahren vor dem BFH weitergeführt wird, gilt insoweit nichts anderes.
c) Auch im Rahmen der Begründetheitsprüfung für die vorliegende Beschwerde ist die Frage, ob die Ablehnung der Richer in bezug auf das Abhilfeverfahren berechtigt war, nicht überprüfbar. Handlungen des Richters vor Anbringung des Ablehnungsgesuchs bleiben - auch wenn das Ablehnungsgesuch Erfolg hat - wirksam (vgl. § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. § 47 ZPO; z.B. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 51 FGO Rz. 13).
2. Die Beschwerde kann keinen Erfolg haben. Der Senat kann ebenso wie das FG offenlassen, ob das Befangenheitsgesuch unter Berücksichtigung der vorgebrachten Gründe zulässig ist. Es ist jedenfalls unbegründet. Das FG hat deshalb zu Recht das Ablehnungsgesuch zurückgewiesen.
a) Nach § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. § 42 Abs. 2 ZPO kann ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen. Ein derartiger Grund ist gegeben, wenn ein Beteiligter von seinem Standpunkt aus, jedoch bei vernünftiger, objektiver Betrachtung davon ausgehen kann, daß der Richter nicht unvoreingenommen entscheiden werde. Unerheblich ist dabei, ob tatsächlich die Entscheidung durch Voreingenommenheit beeinflußt ausfiele; ausschlaggebend ist, ob der Beteiligte von seinem Standpunkt aus bei Anlegung des angeführten objektiven Maßstabs Anlaß hat, Voreingenommenheit zu befürchten (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschluß vom 4. Juli 1985 V B 3/85, BFHE 144, 144, BStBl II 1985, 555).
Das Ablehnungsverfahren dient nicht dazu, die Beteiligten gegen unrichtige - materiell-rechtliche oder verfahrensrechtliche - Rechtsauffassungen zu schützen. Insoweit stehen den Beteiligten die allgemeinen Rechtsbehelfe zur Verfügung (z.B. BFH in BFHE 144, 144, BStBl II 1985, 555, und BFH-Beschluß vom 20. November 1990 VII B 32/90, BFH/NV 1991, 755 m.w.N.; Beschluß des erkennenden Senats vom heutigen Tage X B 69/92, BFH/NV 1994, 34. Zweck des Instituts der Richterablehnung ist vielmehr allein, die Beteiligten davor zu bewahren, daß an der Entscheidung der sie betreffenden Streitsache ein Richter mitwirkt, der Anlaß für die Besorgnis gegeben hat, er werde ihnen mit Voreingenommenheit begegnen (z.B. BFH in BFHE 144, 144, BStBl II 1985, 555 m.w.N.).
b) Der vom Kläger im Ablehnungsgesuch geltend gemachte Grund kann nach Maßgabe einer objektiven und vernünftigen Betrachtung nicht die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen.
Der Kläger trägt zur Begründung seines Ablehnungsgesuchs - abgesehen von dem Hinweis auf die vermeintlich fehlerhafte Entscheidung, die Akten nicht an das Amtsgericht zur dortigen Einsicht zu verschicken - keine weiteren Anhaltspunkte oder Umstände vor, die von seinem Standpunkt aus Anlaß zu Zweifeln an der Unvoreingenommenheit gegeben haben.
Soweit der Kläger geltend macht, die Entscheidung über Art und Weise der Akteneinsicht sei rechtsfehlerhaft, und er damit sinngemäß Verletzung rechtlichen Gehörs rügt, wendet er sich gegen den Inhalt der Entscheidung. Mit der Fehlerhaftigkeit einer vorausgegangenen Entscheidung allein kann ein Ablehnungsgesuch jedoch nicht begründet werden. Eine Ausnahme gilt lediglich dann, wenn die beanstandete verfahrensrechtliche Entscheidung unter Berücksichtigung der Prozeßlage auch für einen objektiven Dritten nicht mehr nachvollziehbar ist (vgl. BFH-Beschluß vom 21. November 1991 VII B 53-54/91, BFH/NV 1992, 526). Diese Voraussetzungen liegen hier jedoch nicht vor.
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) hat, wie aus den Gerichtsakten ersichtlich ist, mit Schriftsatz vom 21. August 1991 die Einkommensteuerakten vorgelegt. Von dem Eingang wurde der Prozeßbevollmächtigte bereits mit Schreiben vom 27. August 1991 unterrichtet. Der Prozeßbevollmächtigte hat, obwohl ihm die Ladung zur mündlichen Verhandlung am 12. November 1991 bereits am 20. September 1991 zugestellt worden ist, erst am 27. Oktober 1991 Akteneinsicht beim Amtsgericht beantragt. Angesichts eines Zeitraums von nur etwa 2 Wochen bis zur mündlichen Verhandlung ist die Entscheidung des Vorsitzenden, die Akten wegen des bevorstehenden Termins zur mündlichen Verhandlung nicht mehr zu versenden, sondern sie in der Geschäftsstelle zur Einsicht zur Verfügung zu stellen, für einen objektiven Beteiligten ohne weiteres einsehbar. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß die Einsichtnahme - wegen der Gefahr des Verlustes der Akten und im Interesse der ständigen Verfügbarkeit - im Regelfall bei Gericht zu gewähren ist und daß die dadurch bedingten normalen Unbequemlichkeiten und Zeitverluste grundsätzlich hingenommen werden müssen (z.B.BFH-Beschluß vom 24. März 1981 VII B 64/80, BFHE 133, 8, 12, BStBl II 1981, 475 m.w.N.; vgl. z.B. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 26. August 1981 2 BvR 637/81, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Finanzgerichtsordnung, § 78, Rechtsspruch 10). Lehnt der Vorsitzende eine Versendung der Akten kurz vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung im Interesse der ständigen Verfügbarkeit der Akten zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung ab und verweist er auf die Möglichkeit, die Akten bei der Geschäftsstelle des Senats einzusehen, ist diese Entscheidung, wenn nicht besondere Gründe vorliegen, nicht ermessensfehlerhaft. Dies gilt um so mehr, als der Prozeßbevollmächtigte den Antrag auf Akteneinsicht, obwohl er seit Ende August von dem Eingang der Einkommensteuerakten Kenntnis hatte, so spät gestellt hatte, daß die Versendung der Einkommensteuer- und der Gerichtsakten an einen anderen Ort nicht mehr zweckdienlich war. Gründe, weshalb dem Prozeßbevollmächtigten die Einsichtnahme der Akten in der Zeit bis zum Verhandlungstermin nicht möglich sein werde, hat der Kläger zu keiner Zeit vorgetragen. Unter diesen Umständen ist nicht nachvollziehbar, weshalb der Kläger aufgrund dieser Entscheidung des Vorsitzenden Richters den Eindruck der Voreingenommenheit gewinnen konnte.
Fundstellen