Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung des Geschäftsverteilungsplans; Wirkung eines Verzichts auf mündliche Verhandlung; kein Fehlen der Entscheidungsgründe bei Schweigen zu Verfahrensfrage
Leitsatz (NV)
1. Ein Geschäftsverteilungsplan ist sinnentsprechender Auslegung zugänglich.
2. Der Begriff "Altfall" hat jedenfalls im Hinblick auf ausgesetzte Verfahren einen durch Auslegung ohne weiteres zu ermittelnden klaren und eindeutigen Sinn.
3. Der Verzicht auf mündliche Verhandlung hat nicht nur für das Verfahren vor dem Spruchkörper Wirkung, dem gegenüber er erklärt worden ist.
4. Die Rüge, das Gericht sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen, betrifft nicht das Fehlen einer rechtlichen Begründung der vom FG getroffenen Entscheidung i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO, sondern allenfalls einen Mangel des zu beachtenden Verfahrens.
5. Auch wenn sich das Gericht zu einer bestimmten Frage nicht ausdrücklich geäußert hat, ist ein Verfahrensmangel nicht gegeben, wenn erkennbar ist, welche Überlegungen maßgeblich waren.
Normenkette
FGO § 90 Abs. 2, § 116 Abs. 1 Nrn. 1, 3, 5; GVG § 21e Abs. 1 S. 1
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) erhob gegen den Einkommensteuerbescheid 1985 Klage wegen unwirksamer Bekanntgabe dieses Bescheides sowie wegen des Grundfreibetrages und des Kinderfreibetrages. Sie erklärte sich ebenso wie der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden. Während des finanzgerichtlichen Verfahrens änderte das FA den Einkommensteuerbescheid mehrfach und erhöhte u. a. die Kinderfreibeträge nach Maßgabe des Steueränderungsgesetzes (StÄndG) 1991.
Mit Beginn des Geschäftsjahres 1992 war die Streitsache aufgrund des Präsidiumsbeschlusses vom 17. September 1991, nach dem "die Altfälle des Jahrgangs 1982" vom 11. Senat des Finanzgerichts (FG) auf den 3. Senat übergehen sollten, vom 3. Senat übernommen worden. Die Klägerin hatte deshalb "vorsorglich" den Entzug des gesetzlichen Richters gerügt und nach richterlichem Hinweis auf den vorgenannten Präsidiumsbeschluß um dessen Übersendung gebeten. Dieser Bitte wurde vom FG entsprochen.
Das FG hat die Klage ohne mündliche Verhandlung abgewiesen. Hiergegen richtet sich die auf § 116 Abs. 1 Nrn. 1, 3 und 5 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gestützte Revision der Klägerin, zu deren Begründung im wesentlichen folgendes vorgetragen wird:
Die Klägerin habe den angeforderten Präsidiumsbeschluß über den Übergang der Altfälle auf den 3. Senat nicht erhalten. Das Gericht sei daher nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen. Sie habe nicht überprüfen können, ob die Übertragung der Altfälle auf den 3. Senat eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) darstelle. Die damit verbundene Verletzung des rechtlichen Gehörs führe im Zweifel immer dazu, daß das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt sei. Darüber hinaus sei der Präsidiumsbeschluß unpräzise. Dem Gesetz könne nicht entnommen werden, was unter "Altfälle" tatsächlich gemeint sei. Ferner sei das Urteil des FG nicht mit Gründen versehen, soweit der Entzug des gesetzlichen Richters gerügt worden sei. Die Klägerin sei auch nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten gewesen, weil das FG ohne mündliche Verhandlung entschieden habe. Es sei verpflichtet gewesen, die Klägerin darauf hinzuweisen, daß in Kürze mit einer Entscheidung zu rechnen sei. Sie habe befragt werden müssen, ob sie die volle Berücksichtigung der Vorsorgeaufwendungen beantragen oder sonstige Klageanträge aufgrund der geänderten verfassungsrechtlichen Lage stellen wolle. Bei dem Verzicht auf mündliche Verhandlung habe sie die in diesem Zusammenhang einschlägigen Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) nämlich noch nicht gekannt. Zudem habe sie nur für das Verfahren vor dem 11. Senat diesen Verzicht erteilt. Zumindest im Rahmen der Gewährung rechtlichen Gehörs habe sie daher gefragt werden müssen, ob sie ihre Verzichtserklärung aufrechterhalte.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und das Verfahren an das FA zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Der Senat entscheidet in der Besetzung, die sich aus der von dem Vorsitzenden getroffenen Regelung über die Mitwirkung der Senatsmitglieder an den Verfahren im Geschäftsjahr 1995 vom 15. Dezember 1994 und der Ergänzung dieses Mitwirkungsplans vom 7. Juni 1995 ergibt. Für Fälle der hier vorliegenden Art, in denen Berichterstatter und Mitberichterstatter am 1. Januar 1996 bereits bestimmt waren, hat sich insoweit durch den Mitwirkungsplan für das Jahr 1996 vom 21. Dezember 1995 nichts geändert. Diese Regelungen entsprechen den Anforderungen des Art. 101 Abs. 1 GG.
Die Revision ist gemäß §§ 124 Abs. 1, 126 Abs. 1 FGO durch Beschluß zu verwerfen, weil sie unzulässig ist. Eine ohne Zulassung durch das FG oder den Bundesfinanzhof (BFH) eingelegte Revision ist nur dann zulässig, wenn wesentliche Mängel des Verfahrens i. S. von § 116 Abs. 1 FGO schlüssig gerügt werden, wenn also Tatsachen vorgetragen werden, die -- ihre Richtigkeit unterstellt -- einen der in § 116 Abs. 1 FGO aufgeführten Verfahrensmängel ergeben. Mit dem Vorbringen der Revision werden jedoch keine Tatsachen bezeichnet, aus denen sich ein solcher Verfahrensmangel ergeben kann.
1. Nach § 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO kann mit der zulassungsfreien Verfahrensrevision gerügt werden, daß das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war. Die Revision will die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des FG offenbar daraus herleiten, daß der Präsidiumsbeschluß über die Änderung der Geschäftsverteilung beim FG per 1. Januar 1992 an einer vermeidbaren Unbestimmtheit leide, da der in diesem Beschluß verwandte Begriff "Altfälle" nicht im Gesetz definiert und unbestimmt sei. Diese Auffassung der Revision ist indes offenkundig unzutreffend. Denn der Begriff "Altfall" hat im Hinblick auf die in der Revision beispielhaft angeführten ausgesetzten Verfahren einen durch sinnentsprechende Auslegung, der auch ein Geschäftsverteilungsplan zugänglich ist (Beschluß des BVerfG vom 10. August 1995 1 BvR 1644/94, Betriebs-Berater -- BB -- 1995, 1782), ohne weiteres zu ermittelnden klaren und eindeutigen Sinn. Außerdem stellt die Revision selbst nicht in Abrede, daß jedenfalls das Verfahren der Klägerin ein Altfall im Sinne des Präsidiumsbeschlusses war; selbst wenn also die Überleitungsregelung des Präsidiumsbeschlusses im Hinblick auf andere Verfahren unbestimmt und daher unwirksam gewesen wäre, wäre die Klägerin davon nicht betroffen; die angebliche Unbestimmtheit des Beschlusses, die sich auf davon unabhängige Regelungen nicht auswirkte, wäre folglich für das Verfahren der Klägerin ohne Bedeutung.
Das weitere Vorbringen der Revision, die Klägerin habe zu dem Präsidiumsbeschluß kein rechtliches Gehör erhalten, ist schon deshalb unschlüssig, weil eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör mit der zulassungsfreien Verfahrensrevision nicht gerügt werden kann.
2. Mit der zulassungsfreien Verfahrensrevision kann nach § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO gerügt werden, daß ein Beteiligter im Verfahren nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten war. Aus dem Vorbringen der Revision ergibt sich jedoch nicht, daß ein solcher Mangel vorliegt. Die Auffassung der Revision, der von der Klägerin ausdrücklich erklärte Verzicht auf mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 FGO) habe nur für das Verfahren vor dem früher zuständigen 11. Senat Wirkung gehabt, so daß der 3. Senat des FG nicht im schriftlichen Verfahren habe entscheiden dürfen, ist ohne Stütze im Gesetz und unrichtig (vgl. Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts -- BVerwG -- vom 20. Juli 1970 VI CB 25.68, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, 310 § 108 Nr. 1 VwGO Nr. 10).
Nicht zu folgen wäre der Revision ferner, sofern sie sich darauf stützen will, es habe zur Unwirksamkeit des Verzichts auf mündliche Verhandlung geführt, daß die Klägerin nach Erklärung des Verzichts verfassungsrechtliche Erkenntnisse gewonnen hat oder hätte gewinnen können, aufgrund derer sie ihren Klageantrag hätte ändern wollen. Denn das hätte der Klägerin allenfalls die Möglichkeit eröffnen können, den Verzicht auf mündliche Verhandlung nach § 90 Abs. 2 FGO zu widerrufen (vgl. das Urteil des Senats vom 6. April 1990 III R 62/89, BFHE 160, 405, BStBl II 1990, 744).
Ob das FG, um den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör zu wahren, auf die bevorstehende Entscheidung oder sogar auf die Möglichkeit einer Änderung des Klageantrages hätte hinweisen müssen, bedarf keiner Prüfung, weil eine Gehörsverletzung mit der zulassungsfreien Verfahrensrevision nicht gerügt werden kann.
3. Nach § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO schließlich kann die zulassungsfreie Verfahrensrevision darauf gestützt werden, daß die Entscheidung des FG nicht mit Gründen versehen ist. Auch das wird indes von der Revision nicht schlüssig dargelegt. Nach der Rechtsprechung des BFH ist eine Entscheidung i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO zwar nicht nur dann nicht mit Gründen versehen, wenn sie überhaupt nicht oder nicht rechtzeitig begründet worden ist. Nicht mit Gründen versehen ist vielmehr eine Entscheidung auch dann, wenn das FG einen selbständigen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergangen hat. Voraussetzung dafür ist jedoch, daß der selbständige Anspruch oder das selbständige Angriffs- oder Verteidigungsmittel in dem Verfahren vor dem FG geltend gemacht worden ist und es sich um einen wesentlichen Streitpunkt gehandelt hat (Beschluß des Senats vom 12. April 1991 III R 181/90, BFHE 164, 179, BStBl II 1991, 638 m. w. N.).
Die von der Klägerin erhobene Rüge, das Gericht sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen, betrifft nicht im Sinne dieser Rechtsprechung einen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel. Sie betrifft überhaupt nicht das Fehlen einer rechtlichen Begründung der vom FG getroffenen Entscheidung, sondern allenfalls einen Mangel des -- vor und bei der Entscheidungsfindung -- zu beachtenden Verfahrens (BFH-Beschluß vom 21. September 1994 VIII R 80-82/93, BFH/NV 1995, 416). Überdies war die Besetzungsrüge -- jedenfalls im Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung des FG -- kein wesentlicher Streitpunkt. Nachdem das FG den vorgenannten Präsidiumsbeschluß an den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin abgesandt und dieser sich zu der Besetzungsfrage während mehr als acht Monaten nicht mehr geäußert hatte, konnte das FG davon ausgehen, daß die nur "vorsorglich" erhobene Besetzungsrüge erledigt sei, zumal die Wirksamkeit des Präsidiumsbeschlusses und der dadurch bewirkte Übergang des Verfahrens auf den 3. Senat einem vernünftigen Zweifel nicht unterliegen konnten.
Im übrigen ist ein Verfahrensmangel nach § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO nicht gegeben, wenn erkennbar ist, welche Überlegungen für das Gericht maßgeblich waren, auch wenn es sich zu einer bestimmten Frage nicht ausdrücklich geäußert hat (BFH-Beschluß vom 20. November 1990 IV R 80/90, BFH/NV 1991, 609 m. w. N.); hier ist offenkundig, daß der erkennende Senat des FG seine Entscheidungszuständigkeit bejaht hat, weil sie nach dem Präsidiumsbeschluß eindeutig war.
4. Die in diesem Verfahren zu treffende Entscheidung ist von der Entscheidung über die von der Klägerin zugleich eingelegte Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision unabhängig (Beschluß des Senats in BFHE 164, 179, BStBl II 1991, 638, und BFH-Beschluß in BFH/NV 1995, 416).
Fundstellen
Haufe-Index 423574 |
BFH/NV 1996, 614 |