Entscheidungsstichwort (Thema)
Richterablehnung wegen Befangenheit
Leitsatz (NV)
1. Die Ablehnung aller Richter eines Spruchkörpers ist dann nicht rechtsmißbräuchlich, wenn diese im Hinblick auf konkrete Anhaltspunkte in der Kollegialentscheidung erfolgt.
2. Die Richterablehnung kann grundsätzlich nicht auf die Rüge rechtsfehlerhafter Entscheidung gestützt werden.
3. Die Umdeutung eines Antrags auf Aussetzung der Vollziehung in einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist ausgeschlossen, wenn das von einer sachkundigen Partei vorgebrachte Rechtsschutzbegehren ausdrücklich als Aussetzung der Vollziehung bezeichnet ist.
Normenkette
FGO § 51 Abs. 1, §§ 69, 114; ZPO § 42
Tatbestand
Der Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) beantragte beim Antrags- und Beschwerdegegner (Finanzamt - FA -), den Vorauszahlungsbescheid vom 2. September 1991 betreffend Solidaritätszuschlag zum 10. Dezember 1991, 10. März und 10. Juni 1992 von der Vollziehung auszusetzen.
Der diesbezügliche Schriftsatz des Antragstellers war überschrieben mit Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (§ 69 Abs. 3 FGO). Diesen Antrag lehnte der ... Senat des ... FG unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters ... und der Richter ... und ... ab. Eine Nachprüfung des Vorauszahlungsbescheids sei wegen der eingetretenen Unanfechtbarkeit nicht mehr möglich. Der Antragsteller habe unstreitig gegen den Vorauszahlungsbescheid vom 2. September 1991 keinen Einspruch einglegt. Da im Hauptsacheverfahren eine Klage auf Feststellung der Nichtigkeit dieses Bescheids erhoben worden sei, sei vorläufiger Rechtsschutz nur durch einstweilige Anordnung zu gewähren (Hinweis auf Beschlüsse des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 1. Oktober 1981 IV B 13/81, BFHE 134, 223, BStBl II 1982, 133, und vom 26. Februar 1992 I B 113/91, BFH/NV 1993, 349).
Eine Umdeutung des Antrags auf Aussetzung der Vollziehung in einen Antrag auf einstweilige Anordnung komme nicht in Betracht. Der Rechtsbehelfsführer habe einen eindeutigen Antrag gestellt; seine Ausführungen ließen nicht den Schluß zu, daß er auch mit einer abweichenden Beurteilung seines Rechtsbehelfs einverstanden wäre. Denn der Antragsteller habe ursprünglich einen Antrag wegen einstweiliger Anordnung ... gestellt, den er inzwischen zurückgenommen habe. Wenn er nunmehr Aussetzung der Vollziehung beantrage, müsse im Hinblick darauf, daß er als Rechtskundiger um die Bedeutung seiner Anträge wisse, davon ausgegangen werden, daß dies auch seinem Willen entspreche.
Daraufhin beantragte der Antragsteller am 3. Juli 1992 im Wege der einstweiligen Anordnung, die Vollstreckung von Solidaritätszuschlägen für das IV.Quartal 1991 und für das I.Quartal 1992 zu unterlassen ... Zugleich beantragte er, den Vorsitzenden Richter ..., den Richter ... und die Richterin ... wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen. Zur Begründung führte er an, daß diese Richter seinen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung abgelehnt hätten, obwohl diesen aufgrund seines Schriftsatzes vom 6. Mai 1992 bekannt gewesen sei, daß das FG ... eine andere Auffassung zu der Zulässigkeit des Antrags auf Aussetzung der Vollziehung vertrete. Da das FG seinen Antrag nicht umgedeutet bzw. die Beschwerde zum BFH nicht zugelassen habe, sei bei ihm der Eindruck entstanden, daß man sich seitens der Richter mit dem Vorgang nicht mit der gebotenen Sachlichkeit befassen wolle. Dieser Eindruck werde dadurch verstärkt, daß sich diese Richter im Hauptsacheverfahren in einem Vorbescheid nicht mit den vorgetragenen sachlichen Gründen auseinandergesetzt hätten.
Das FG lehnte die Ablehnungsgesuche als rechtsmißbräuchlich ab.
Dagegen ist die Beschwerde des Antragstellers gerichtet.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist zulässig, aber nicht begründet.
Das FG hat den Ablehnungsantrag im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen. Das Ablehnungsgesuch ist entgegen der Vorentscheidung zulässig, jedoch nicht begründet.
1. Ein Richter kann wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Mißtrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen (§ 51 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO - i.V.m. § 42 Abs. 1 und 2 der Zivilprozeßordnung - ZPO -). Dabei kommt es darauf an, ob der betroffene Beteiligte von seinem Standpunkt aus bei vernünftiger objektiver Betrachtung Anlaß hat, Voreingenommenheit zu befürchten (Beschluß des BFH vom 4. Juli 1985 V B 3/85, BFHE 144, 144, BStBl II 1985, 555, ständige Rechtsprechung).
Das Ablehnungsgesuch muß sich grundsätzlich auf bestimmte Richter beziehen. Wegen Rechtsmißbrauchs ist es im allgemeinen unzulässig, pauschal den ganzen Spruchkörper oder alle Berufsrichter eines Spruchkörpers ohne Angabe ernstlicher Gründe in der Person des einzelnen Richters abzulehnen (BFH-Urteil vom 25. Oktober 1973 IV R 80/72, BFHE 110, 479, BStBl II 1974, 142; und Tipke/Kruse Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 51 FGO Tz. 10 m.w.N.). Allerdings gilt dies nicht, wenn alle Mitglieder eines Spruchkörpers wegen Besorgnis der Befangenheit im Hinblick auf konkrete Anhaltspunkte in einer Kollegialentscheidung abgelehnt werden (ständige BFH-Rechtsprechung - z.B. BFH-Beschluß vom 27. Juli 1992 VIII B 59/91, BFH/NV 1993, 112, m.w.N., im Anschluß an Urteil des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 5. Dezember 1975 VI C 129.74, BVerwGE 50, 36, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Finanzgerichtsordnung, § 51, Rechtsspruch 28). Denn in einem solchen Fall kann der Betroffene wegen des Beratungsgeheimnisses nicht wissen, welcher Richter die Entscheidung mitgetragen hat (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 16. Dezember 1969 5 StR 468/69, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1970, 478). Ein Mißbrauch des Ablehnungsrechts durch Ablehnung des gesamten Spruchkörpers liegt beim Anknüpfen an eine von diesem getroffene Entscheidung daher nur vor, wenn das Gesuch gar nicht oder nur mit Umständen begründet wird, welche die Besorgnis der Befangenheit unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtfertigen können (Urteil des BVerwG vom 2. Juli 1976 VI C 109.75, Die Öffentliche Verwaltung - DÖV - 1976, 747). So liegt der Streitfall jedoch nicht. Der Antragsteller hat sein Ablehnungsgesuch mit konkreten Umständen aus dem sachlich vorausgehenden Verfahren der Aussetzung der Vollziehung substantiiert begründet.
Es ist unschädlich, daß die abgelehnten Richter keine dienstliche Äußerung über das Ablehnungsgesuch abgegeben haben, da der zur Entscheidung stehende Sachverhalt unstreitig feststeht (BFH-Beschluß vom 30. September 1986 VIII B 31/86, BFH/NV 1987, 308).
2. Das Ablehnungsgesuch war unbegründet, weil die Richterablehnung grundsätzlich nicht auf die Rüge rechtsfehlerhafter Entscheidung gestützt werden kann. Dies gilt insbesondere für die Rüge von Rechtsverstößen, die dem Gericht in einem früheren Verfahrensabschnitt oder in einem Parallelverfahren unterlaufen sind (vgl. BFH-Beschlüsse vom 7. Mai 1986 I B 70/85, BFH/NV 1987, 653, und vom 30. November 1987 VIII B 7/87, BFH/NV 1989, 639). Denn das Richterablehnungsverfahren schützt nicht gegen unrichtige Rechtsansichten des Richters. Dagegen können sich die Beteiligten mit den dafür vorgesehenen Rechtsbehelfen wehren. Rechtsfehler können nur ausnahmsweise, und zwar dann eine Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen, wenn Gründe dargetan werden, die dafür sprechen, daß die mögliche Fehlerhaftigkeit auf einer unsachlichen Einstellung des Richters gegenüber der ablehnenden Partei oder auf Willkür beruht (BFH-Beschluß vom 16. Februar 1989 X B 99/88, BFH/NV 1989, 708; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, § 51 Tz. 40). Die Fehlerhaftigkeit muß ohne weiteres feststellbar und gravierend sein sowie auf unsachliche Erwägungen schließen lassen (BFH-Beschluß vom 7. April 1988 X B 4/88, BFH/ NV 1989, 587, Ziff.II. 3. a der Gründe).
Die Entscheidung des FG, den Antrag der Aussetzung der Vollziehung des Antragstellers nicht in einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung umzudeuten, enthält keinen Rechtsfehler.
Dem Antragsteller ist zwar zuzugeben, daß das FG die Umdeutung nicht isoliert mit der Begründung hätte verweigern können, der Antragsteller habe bereits wegen des Solidaritätszuschlags einen solchen Antrag gestellt, den er zurückgenommen habe. Denn der Antragsteller war bei seinem ursprünglichen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung erkennbar von einer anderen Prozeßlage ausgegangen. Er hatte nämlich (irrtümlich) angenommen, das FA wolle gegen ihn wegen des Solidaritätszuschlags vollstrecken, ohne daß zuvor ein vollstreckbarer Verwaltungsakt ergangen sei.
Indes ist eine Umdeutung eines Antrags auf Aussetzung der Vollziehung in einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung grundsätzlich ausgeschlossen, wenn das von einer sachkundigen Partei vorgebrachte Rechtsschutzbegehren - wie im Streitfall - ausdrücklch als Antrag auf Aussetzung der Vollziehung bezeichnet worden ist (BFH-Beschlüsse vom 24. September 1970 II B 28/70, BFHE 100, 83, BStBl II 1970, 813, und vom 26. März 1985 III B 52/84, BFH/NV 1986, 32). Darauf hat das FG ohne Rechtsverstoß abgehoben. Insoweit lassen sich die vorstehend erörterten Ausführungen des FG auch dahin verstehen, es sei davon ausgegangen, daß dem Antragsteller auch in concreto der Unterschied zwischen Aussetzung der Vollziehung und einstweiligen Anordnung bekannt gewesen sei. Wenn das FG in seiner Entscheidung auf diese Rechtslage hinweist, so läßt sich daraus bei objektiver Betrachtung - anders als der Antragsteller meint - keine anmaßende Belehrung ableiten; vielmehr wird von einem Sachkundigen - auch, wenn er sich in einem finanzgerichtlichen Verfahren selbst vertritt - eine höhere Anspannung der Sorgfaltspflicht als von einem Laien verlangt (vgl. BFH in BFHE 100, 83, BStBl II 1970, 813 a.E.). Das FG konnte insoweit von der Sachkunde des Antragstellers ausgehen, da er sich ausweislich seiner Schriftsätze dem Gericht gegenüber als ... und Fachanwalt für Steuerrecht zu erkennen gab.
Fundstellen
Haufe-Index 419149 |
BFH/NV 1994, 180 |