Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung von Prozesserklärungen bei vorläufigen falschen Anträgen
Leitsatz (NV)
1. Stellt das FG bei der Bestimmung des Klagebegehrens auf einen vorläufigen (falschen) wörtlichen Antrag der Kläger ab, der nach der konkreten verfahrensrechtlichen Prozesslage objektiv sinnlos ist, und hält es die Kläger trotz späterer Berichtigung des Antrags an diesem fest, kommt es seiner Verpflichtung zur Ermittlung des wirklich Gewollten nicht nach und verletzt die Vorgaben für die rechtsschutzgewährende Auslegung von Prozesserklärungen.
2. Dies gilt auch, wenn der angefochtene Einkommensteuerbescheid im Einspruchsverfahren durch einen Änderungsbescheid ersetzt wird und die Kläger im FG-Verfahren zunächst beantragen, den aufgehobenen Einkommensteuerbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung zu ändern.
Normenkette
FGO § 65; BGB § 133; GG Art. 19 Abs. 4
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) erhoben gegen einen Änderungsbescheid zur Einkommensteuer vom 26. November 1999 für das Streitjahr 1994 Einspruch. Im Einspruchsverfahren erging unter dem 17. Juli 2000 ein weiterer Änderungsbescheid für das Streitjahr.
Der Einspruch der Kläger blieb erfolglos. In der Einspruchsentscheidung vom 7. Dezember 2005 wird auf S. 10 auf den Änderungsbescheid vom 17. Juli 2000 Bezug genommen und ausgeführt, dass dieser Bescheid zum Gegenstand des Verfahrens geworden sei.
Die Kläger erhoben Klage beim Hessischen Finanzgericht (FG). Im Schriftsatz zur Klageerhebung vom 22. Dezember 2005 erklärten die Kläger, sie würden in der mündlichen Verhandlung voraussichtlich beantragen, "den Einkommensteuerbescheid des Jahres 1994 vom 26. November 1999 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 7. Dezember 2005 dahingehend abzuändern, dass die Einkommensteuer 1994 um einen Betrag in Höhe von € … herabgesetzt wird". In derselben Höhe beantragten sie die Aussetzung der Vollziehung. Die Klage wurde umfänglich begründet. Die Kläger wenden sich gegen den Ansatz von Veräußerungsgewinnen im Rahmen eines gewerblichen Grundstückshandels durch den Beklagten und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--), den das FA nach Übertragung verschiedener Beteiligungen des Klägers an Grundstücksgesellschaften auf eine Holdinggesellschaft als gegeben ansah.
In einer gerichtlichen Verfügung vom 5. Oktober 2007 erteilte der Berichterstatter und spätere Einzelrichter beim FG den Hinweis, die Klage sei unzulässig, da sie ausdrücklich und eindeutig gegen den Einkommensteuerbescheid vom 26. November 1999 in Gestalt der Einspruchsentscheidung erhoben worden sei. Dieser Bescheid sei durch den Änderungsbescheid vom 17. Juli 2000 ersetzt worden. Mit Ablauf der Klagefrist sei der Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr vom 17. Juli 2000 bestandskräftig geworden. Der Klage fehle das Rechtsschutzbedürfnis.
Dem traten die Kläger entgegen. Die Darlegung ihres Klagebegehrens habe sich auf die Einspruchsentscheidung bezogen, die den geänderten Einkommensteuerbescheid vom 17. Juli 2000 zum Gegenstand habe. Der vorläufig formulierte Antrag in der Klageschrift beziehe sich zwar auf den geänderten Bescheid unter dem 26. November 1999. Es ergebe sich in einer Gesamtbetrachtung mit der Einspruchsentscheidung aber ein Widerspruch. Die Klageschrift sei auslegungsbedürftig. Der im vorläufigen Antrag genannte Betrag, um den die Einkommensteuer herabzusetzen sei, entstamme dem Abrechnungsteil des Änderungsbescheids vom 17. Juli 2000. Es sei offenkundig, dass sie den geänderten Einkommensteuerbescheid unter dem 17. Juli 2000 in Gestalt der Einspruchsentscheidung anfechten wollten.
In der mündlichen Verhandlung vom 16. Januar 2008 beantragten die Kläger erneut, den Einkommensteuerbescheid 1994 vom 26. November 1999 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 7. Dezember 2005 dahingehend abzuändern, dass die Einkommensteuer 1994 um … € herabgesetzt werde. Dieser Antrag entspricht einem vom Einzelrichter vorformulierten Antrag, der Bestandteil der Sitzungsniederschrift ist (Bl. 188 der FG-Akte).
Das FG wies die Klage durch den Einzelrichter als unzulässig ab. In den Entscheidungsgründen stützte es sich wiederum darauf, dass die Kläger ausdrücklich den Einkommensteuerbescheid unter dem 26. November 1999 angefochten hätten. Die Klageschrift sei nicht auslegungsbedürftig. In der mündlichen Verhandlung hätten die Kläger den schriftlich gestellten Antrag wiederholt und hierdurch ihren Erklärungswillen dokumentiert, den unter dem 26. November 1999 ergangenen Einkommensteuerbescheid anfechten zu wollen.
Hiergegen richtet sich die vorliegende Beschwerde. Das Urteil des FG beruhe auf einem Verfahrensmangel gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO), da das FG das Klagebegehren unzureichend bestimmt und seine Hinweis- und Fürsorgepflicht, für die Stellung eines sachgerechten Antrags zu sorgen, verletzt habe. Auf diesen Verfahrensmängeln beruhe die Entscheidung. Die Revision sei zudem zuzulassen, weil das FG-Urteil eine Divergenzentscheidung sei.
Die Kläger beantragen sinngemäß, die Revision gegen das Urteil des Hessischen FG vom 16. Januar 2008 2 K 3842/05 zuzulassen.
Das FA beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist begründet. Das angefochtene Urteil des FG wird aufgehoben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den zuständigen Vollsenat des FG zurückverwiesen (§ 116 Abs. 6 FGO). Das FG hat die Klage zu Unrecht durch Prozessurteil abgewiesen statt durch Sachurteil zu entscheiden. Hierin liegt ein Verfahrensmangel, auf dem das angefochtene Urteil beruht (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) stellt es einen Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO dar, wenn über eine zulässige Klage nicht zur Sache, sondern durch Prozessurteil entschieden wird. In einem solchen Fall wird zugleich der Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt (vgl. u.a. BFH-Beschlüsse vom 8. April 2004 VII B 181/03, BFH/NV 2004, 1284; vom 8. Juni 2004 XI B 46/02, BFH/NV 2004, 1417, m.w.N.; vom 16. April 2007 VII B 98/04, BFH/NV 2007, 1345).
2. Im Streitfall hat das FG die Klage rechtsfehlerhaft als unzulässig abgewiesen, weil es die Prozesserklärungen der Kläger unzutreffend ausgelegt und damit seiner Entscheidung einen falschen Verfahrensgegenstand zugrunde gelegt hat.
a) Prozesserklärungen sind wie sonstige Willenserklärungen auslegungsfähig. Ziel der Auslegung ist es, den wirklichen Willen des Erklärenden zu erforschen (§ 133 des Bürgerlichen Gesetzbuchs). Auf die Wortwahl und die Bezeichnung kommt es nicht entscheidend an, sondern auf den gesamten Inhalt der Willenserklärung (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 7. November 2007 I B 104/07, BFH/NV 2008, 799). Dabei können auch außerhalb der Erklärung liegende weitere Umstände berücksichtigt werden (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2007, 1345). Nur eine solche Auslegung trägt dem Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung von Verfahrensvorschriften (Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes) Rechnung (vgl. BFH-Beschlüsse vom 17. Januar 2002 VI B 114/01, BFHE 198, 1, BStBl II 2002, 306, und in BFH/NV 2004, 1417).
b) Nach diesen Maßstäben ist das FG unzutreffend davon ausgegangen, dass die Kläger den unter dem 26. November 1999 ergangenen Einkommensteuerbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 7. Dezember 2005 anfechten wollten. Der von den Klägern hinreichend deutlich benannte Verfahrensgegenstand ist der Einkommensteuerbescheid vom 17. Juli 2000 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 7. Dezember 2005.
aa) Zwar haben die Kläger ihrer Klagebegründung einen vorläufigen Antrag vorangestellt, der den Änderungsbescheid unter dem 26. November 1999 erwähnt und nicht den im Einspruchsverfahren ergangenen Einkommensteuerbescheid unter dem 17. Juli 2000. Ihre Prozesserklärung war aber auslegungsbedürftig. Sie haben der Klage die Einspruchsentscheidung als Anlage 3 beigefügt, deren Gegenstand der Änderungsbescheid unter dem 17. Juli 2000 ist. Ferner haben sich die Kläger in ihrem vorläufigen Antrag zur Bezifferung der herabzusetzenden Einkommensteuer auf den Abrechnungsteil des Änderungsbescheids vom 17. Juli 2000 bezogen. Sie haben zudem in ihrer Klagebegründung ausführlich auf die zwischen den Beteiligten streitigen Rechtsfragen zum Vorliegen eines gewerblichen Grundstückshandels aus der Bündelung der verschiedenen Beteiligungen des Klägers in einer Holding Bezug genommen. Auf den Hinweis des FG, die Klage sei unzulässig, haben sie klargestellt, Verfahrensgegenstand sei der zuletzt ergangene Bescheid vom 17. Juli 2000 in Gestalt der Einspruchsentscheidung.
bb) Bei Anwendung der vorstehenden Auslegungsgrundsätze konnte die Prozesserklärung der Kläger vom FG vor dem Hintergrund des gesamten Verfahrens objektiv nur dahingehend verstanden werden, dass die Kläger den zuletzt im Einspruchsverfahren ergangenen Bescheid vom 17. Juli 2000 in Gestalt der Einspruchsentscheidung anfechten wollten. Das FG hat demgegenüber rechtsfehlerhaft allein auf den vorläufigen (falschen) wörtlichen Antrag der Kläger abgestellt, ohne seiner Verpflichtung zur Ermittlung des wirklich Gewollten nachzukommen und hat die Kläger gegen ihre Bekundung an einem Verfahrensgegenstand festgehalten, der eindeutig nicht gewollt war. Hierin liegt bei verständiger Würdigung keine rechtsschutzgewährende Auslegung der Prozesserklärungen im Streitfall.
cc) Dies musste sich dem FG im Übrigen aufgrund der verfahrensrechtlichen Rechtslage aufdrängen.
Der vom FG der Entscheidung anhand des vorläufigen wörtlichen Antrags in der Klageschrift zugrunde gelegte Verfahrensgegenstand ergibt objektiv keinen Sinn. Wird der angefochtene Verwaltungsakt während des Einspruchsverfahrens geändert, so wird der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Einspruchsverfahrens (§ 365 Abs. 3 Satz 1 der Abgabenordnung). Der Änderungsbescheid nimmt den ursprünglichen Bescheid in seinem Regelungsinhalt mit auf. Solange der Änderungsbescheid Bestand hat, entfaltet der ursprüngliche Bescheid keine Wirkung mehr. Er ist in dem Umfang, in dem er in den Änderungsbescheid aufgenommen ist, suspendiert und bleibt dies für die Dauer der Wirksamkeit des Berichtigungsbescheids (vgl. Beschluss des Großen Senats des BFH vom 25. Oktober 1972 GrS 1/72, BFHE 108, 1, BStBl II 1973, 231). Das FG geht verfahrensrechtlich hingegen von den Rechtsgrundsätzen aus, die vor der Änderung des § 68 FGO durch das Zweite Gesetz zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze vom 19. Dezember 2000 (BGBl I 2000, 1757) nur für Änderungsbescheide im Klageverfahren galten und wendet diese auf Änderungsbescheide im Einspruchsverfahren an (Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 68 Rz 10; Senatsbeschluss vom 29. November 2005 X B 175/00, BFH/NV 2006, 594; BFH-Beschluss vom 15. Mai 2000 V R 21/99, BFH/NV 2000, 1235). Es ist bei zutreffender verfahrensrechtlicher Sichtweise im Streitfall aber kein Grund ersichtlich, warum die Kläger auf der Anfechtung des suspendierten Einkommensteuerbescheids vom 26. November 1999 hätten beharren sollen, durch den sie nicht mehr beschwert waren. Im Gegenteil: Es bestanden keine Unterschiede im streitigen materiellen Gehalt des Rechtsstreits zwischen den im Einkommensteuerbescheid vom 26. November 1999 und den im geänderten Bescheid vom 17. Juli 2000 angesetzten Besteuerungsgrundlagen.
c) Dem steht auch nicht entgegen, dass die Kläger in der mündlichen Verhandlung ihren (falschen) Antrag wiederholt haben. Sie haben in der Beschwerdebegründung glaubhaft gemacht, dass das FG ihre Prozessbevollmächtigten bei der Antragstellung in der mündlichen Verhandlung zu der nochmaligen falschen Antragstellung veranlasst hat. Dies wird auch durch den vom Einzelrichter vorformulierten identischen Antrag belegt, der Bestandteil der Sitzungsniederschrift in der FG-Akte ist. Der Antrag beruht damit auf der unzutreffenden Bestimmung des Verfahrensgegenstandes durch das FG.
3. Die Kläger haben den Verfahrensfehler des FG in hinreichendem Maße gemäß § 116 Abs. 3 FGO dargelegt. Das FG-Urteil beruht auch auf diesem Verfahrensfehler.
4. Der beschließende Senat hält es für angezeigt, gemäß § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, damit das FG im zweiten Rechtszug die Rechtmäßigkeit der festgesetzten Einkommensteuer im Hinblick auf den Einkommensteuerbescheid vom 17. Juli 2000 vollumfänglich prüfen kann. Der Senat verweist die Sache an den Vollsenat zurück, weil angesichts der im zweiten Rechtszug zu behandelnden Rechtsfragen die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Nr. 1 und 2 FGO nicht erfüllt sind.
Fundstellen