Entscheidungsstichwort (Thema)
Kein Anspruch auf Anfertigung einer „Zweitakte“
Leitsatz (NV)
- Aus § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO lässt sich kein Anspruch auf Überlassung von Fotokopien der gesamten Gerichtsakten und der gesamten dem Gericht vorgelegten Akten ableiten.
- Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb einem Generalbevollmächtigten einer Gesellschaft weniger Unterlagen zur Verfügung gestanden haben sollen als einem Gesellschafter oder Geschäftsführer. Jedenfalls kann alleine aus diesem Umstand kein Anspruch auf Überlassung von Fotokopien sämtlicher dem Gericht vorliegender Akten begründet werden.
Normenkette
FGO § 78 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Nachdem die ehemaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers, Antragstellers und Beschwerdeführers (Kläger) Klage gegen den Haftungsbescheid des Beklagten (Finanzamt ―FA―) ohne nähere Begründung eingelegt hatten, legten sie mit Schriftsatz vom … Dezember 2002 das Mandat nieder.
Der Berichterstatter des Finanzgerichts (FG) forderte daraufhin den Kläger mit Verfügung vom … Dezember 2002 auf, den Gegen-stand des Klagebegehrens zu bezeichnen. Mit Schriftsatz vom … Januar 2003 zeigte der jetzige Prozessbevollmächtigte des Klägers an, dass nunmehr er diesen vertrete. Am … Januar 2003 nahm der Prozessbevollmächtigte bei dem FG Akteneinsicht und erhielt die erbetenen Kopien der Klageschrift und der Einspruchsentscheidung. Eine Begründung wurde nicht eingereicht. Mit Schriftsatz vom … Februar 2003 bat der Prozessbevollmächtigte um die Übersendung von Aktenkopien. Unter Hinweis auf den Beschluss des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 15. Juli 1992 II B 29/92 (BFH/NV 1993, 111) machte das FG den Kläger darauf aufmerksam, dass er sein Begehren auf Ablichtung sämtlicher dem FG vorliegenden Steuerakten auf einzelne Aktenteile beschränken müsse. Dieser Aufforderung kam der Kläger nicht nach.
Das FG wies durch den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2003, 875 veröffentlichten Beschluss den Antrag auf Übersendung von Kopien sämtlicher Seiten der dem Gericht vorliegenden Steuerakten ab. Zur Begründung führte es aus, es sei im Streitfall nicht nachvollziehbar, weshalb der gesamte Akteninhalt ―11 Bd. Steuerakten mit ca. 630 Seiten― erforderlich sei, um den Gegenstand des Klagebegehrens zu bezeichnen und die Klage zu begründen, zumal eine wiederholte Akteneinsicht möglich sei.
Dagegen wendet sich der Kläger mit der Beschwerde. Er führt u.a. aus, anders als in der vom FG in Bezug genommenen Entscheidung des BFH in BFH/NV 1993, 111 werde er nicht als Gesellschafter oder Geschäftsführer, sondern als Generalbevollmächtigter einer Gesellschaft zur Haftung herangezogen. Daher lägen ihm die Steuerakten, aus denen sich die Haftungstatbestände ergeben sollen, nicht vollständig vor. Ohne die Vorlage der Kopien sei es ihm ―und erst recht seinem Prozessvertreter― jedoch unmöglich, die Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids, der die Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer, Umsatzsteuer und das Umsatzsteuerabzugsverfahren betreffe, zu überprüfen.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unbegründet.
Nach § 78 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) können die Beteiligten die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten einsehen und sich durch die Geschäftsstelle auf ihre Kosten Ausfertigungen, Auszüge und Abschriften erteilen lassen. Das Recht auf Abschriften usw. besteht nur, soweit die Erteilung von Abschriften usw. geeignet und erforderlich ist, die Prozessführung zu erleichtern; umfängliche Abschriften können dann nicht verlangt werden, wenn ein Beteiligter sein Ziel auch durch Akteneinsicht erreichen kann. Aus § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO lässt sich kein Anspruch auf Überlassung von Fotokopien der gesamten Gerichtsakten und der gesamten dem Gericht vorgelegten Akten ableiten (BFH-Beschlüsse vom 5. Februar 2003 V B 239/02, BFH/NV 2003, 800; vom 29. Oktober 1993 XI B 28/93, BFH/NV 1994, 567; in BFH/NV 1993, 111; vgl. auch Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 78 Rz. 11; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 78 FGO Tz. 14).
Im Streitfall ist das Verlangen des Prozessbevollmächtigten des Klägers, Fotokopien von sämtlichen dem FG vorgelegten Steuerakten zu fertigen, unverhältnismäßig und daher vom FG zu Recht abgelehnt worden. Der Senat vermag nicht zu erkennen, weshalb der Prozessbevollmächtigte Fotokopien sämtlicher Steuerakten benötigt, um den Klagegegenstand bezeichnen und die Klage begründen zu können, zumal der Prozessbevollmächtigte bereits Einsicht in die Akten genommen hat und ihm von der Geschäftsstelle des für den Streitfall zuständigen Senats die erbetenen Aktenteile fotokopiert worden sind. Falls die entsprechenden Ablichtungen für den Prozessbevollmächtigten zur Bezeichnung des Klagegegenstands und zur Klagebegründung nicht ausreichend gewesen sein sollten, hätte er nach erneuter Akteneinsicht die Aktenteile bezeichnen können, die er für wesentlich erachtet und von denen er deshalb Fotokopien begehrt. Auf die Möglichkeit einer wiederholten Akteneinsicht ist der Kläger in dem angefochtenen Beschluss durch das FG hingewiesen worden.
An dieser Beurteilung ändert auch der Umstand nichts, dass der Kläger als Generalbevollmächtigter einer Gesellschaft und nicht als deren Gesellschafter oder Geschäftsführer in Anspruch genommen worden ist. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb dem Kläger als Generalbevollmächtigten weniger Unterlagen zur Verfügung gestanden haben sollen als dem Geschäftsführer des Unternehmens. Aber auch wenn dem Kläger die hier relevanten Unterlagen nicht vollständig vorgelegen haben, lässt sich daraus ein Anspruch auf Anfertigung von Fotokopien sämtlicher Steuerakten nicht ableiten. Auch in diesem Fall kann es dem Prozessbevollmächtigten des Klägers zugemutet werden, Akteneinsicht zu nehmen und anschließend sein Begehren auf die Ablichtung von bestimmten Aktenteilen zu beschränken. Ein Anspruch auf Erstellung einer "Zweitakte" besteht nicht.
Fundstellen