Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Wiedereinsetzung in die versäumte Revisionsbegründungsfrist mangels wirksamer Postausgangskontrolle
Leitsatz (NV)
1. Bei der Beurteilung, ob sich eine Behörde bei einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Versäumung der Frist zur Begründung der Revision als schuldhaft anrechnen lassen muss, gelten grundsätzlich die gleichen Maßstäbe, wie sie die Rechtsprechung für das Verschulden von Angehörigen der rechts- und steuerberatenden Berufe entwickelt hat.
2. Das Verschulden eines Mitarbeiters in der Postabsendestelle ist einer Behörde nicht zurechenbar, wenn eine wirksame Ausgangskontrolle besteht oder der Mitarbeiter wenigstens auf die Eilbedürftigkeit des Schriftstücks ausdrücklich hingewiesen wurde.
3. Eine wirksame Ausgangskontrolle ist nicht gewährleistet, wenn nur eine allgemeine Anweisung an die mit der Postversendung beauftragten Angestellten besteht, Schreiben an die Gerichte immer einzeln und so schnell wie möglich zu versenden.
Normenkette
FGO § 56 Abs. 1-2, § 120 Abs. 1, § 124 Abs. 1, § 126 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) wegen Kindergeld für das Jahr 2003 statt und ließ die Revision zu.
Das Urteil des FG wurde der Beklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) laut Empfangsbekenntnis am 1. September 2006 zugestellt. Die Familienkasse legte am 20. September 2006 fristgerecht Revision ein. Die Revisionsbegründung der Familienkasse ging dem Bundesfinanzhof (BFH) aber erst am 7. November 2006 nach Ablauf der Begründungsfrist zu.
Nachdem die Senatsvorsitzende auf die Versäumung der Revisionsbegründungsfrist hingewiesen hatte, beantragte die Familienkasse am 17. November 2006 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Sie trug vor, die Revisionsbegründung sei am 18. Oktober 2006 erstellt und am 20. Oktober 2006 zur Post gegeben worden. Eine Postlaufzeit von fast drei Wochen entspreche nicht dem normalen Verlauf und sei für die Familienkasse unvorhersehbar gewesen, sodass sie an dem verspäteten Zugang kein Verschulden treffe.
Die Senatsvorsitzende teilte der Familienkasse daraufhin mit, der Briefumschlag mit der Revisionsbegründung sei nicht frankiert und trage auch keinen Poststempel; in der rechten oberen Ecke des Briefumschlags sei lediglich handschriftlich mit Kugelschreiber die Zahl "4" vermerkt. Die Senatsvorsitzende wies außerdem auf die von der Rechtsprechung des BFH geforderten organisatorischen Maßnahmen zur Fristüberwachung hin.
Daraufhin führte die Familienkasse ergänzend aus, die Poststelle habe die Revisionsbegründung am 20. Oktober 2006 entgegen genommen; die Angestellte S habe auf der übersandten Verfügung einen Datumsstempel mit Namenszeichen angebracht. Im Allgemeinen werde die Post nach Eingang in zwei Bereiche getrennt. Der innerdienstliche Schriftverkehr werde in die Postaustauschfächer gelegt, die übrigen Schriftstücke würden maschinell frankiert und zur Post gegeben. Die Angestellten in der Poststelle seien darüber belehrt worden, dass Post an die Gerichte immer einzeln und so schnell wie möglich mit der Post zu versenden sei. Dabei werde nicht zwischen fristfreien und fristwahrenden Schriftsätzen unterschieden. Alle Schriftsätze würden immer offen an die Poststelle geleitet, damit diese Unterscheidung getroffen werden könne. Nur wenn ein Schriftsatz erst kurz vor Fristablauf erstellt werde, wende sich der Verfasser persönlich an die Poststelle, um den Versandweg zur Sicherung des rechtzeitigen Zugangs zu besprechen. Da im Streitfall der Zeitraum zwischen der Annahme durch die Poststelle und dem Fristende fast zwei Wochen betragen habe, sei eine persönliche Vorsprache nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge nicht notwendig gewesen. Die Angestellte S habe bisher fehlerfrei zwischen Schriftstücken unterschieden, die in die Postaustauschfächer zu legen seien und solchen, die frankiert und zur Post gegeben würden. Vermutlich sei die Revisionsbegründung --ohne Absendestempel-- aufgrund eines nicht nachvollziehbaren Büroversehens in das Postaustauschfach für die X, München, gelangt. Die Post für München werde zumeist durch die Paketpost (DHL) und anschließend über das Bayerische … (dort über das Fach mit der Nummer "4") ausgetauscht. Da der Briefumschlag die Ziffer "4" trage, habe er wahrscheinlich im Postfach für den BFH gelegen. Warum der Schriftsatz erst am 7. November 2006 beim BFH eingegangen sei, könne nicht mehr ermittelt werden. Die Organisation der Poststelle der Familienkasse sei für ihre gute Qualität vor kurzem von der Deutschen Post AG zertifiziert worden. Ein Organisationsmangel sei im Streitfall nicht gegeben, sodass ein Verschulden nicht vorliege.
Die Familienkasse beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, den Wiedereinsetzungsantrag abzulehnen und die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist unzulässig und deshalb durch Beschluss zu verwerfen (§ 124 Abs. 1, § 126 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
1. Die Familienkasse hat die Revision nicht rechtzeitig begründet.
Nach § 120 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO ist die Revision innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Da das FG-Urteil der Familienkasse am 1. September 2006 zugestellt wurde und das Fristende 1. November 2006 auf einen Feiertag fiel, lief die Frist für die Begründung der Revision am 2. November 2006 ab (§ 54 FGO i.V.m. § 222 Abs. 2 der Zivilprozessordnung --ZPO--). Die Revisionsbegründung ist aber erst am 7. November 2006 beim BFH eingegangen.
2. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Fristversäumung liegen nicht vor.
a) Nach § 56 Abs. 1 FGO ist Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zur Begründung der Revision nur zu gewähren, wenn der Revisionskläger ohne Verschulden an der Einhaltung der Frist gehindert war, den Wiedereinsetzungsantrag innerhalb von einem Monat nach Kenntnisnahme von der Fristversäumnis gestellt und die zur Begründung des Antrags vorgetragenen Tatsachen glaubhaft gemacht hat (§ 56 Abs. 2 Sätze 1 und 2 FGO).
Bei der Beurteilung, ob eine Behörde sich die Versäumung einer gesetzlichen Frist als schuldhaft anrechnen lassen muss, gelten grundsätzlich die gleichen Maßstäbe, wie sie die Rechtsprechung für das Verschulden von Angehörigen der rechts- und steuerberatenden Berufe entwickelt hat (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschluss vom 16. Januar 2007 IX R 41/05, BFH/NV 2007, 1508, m.w.N.).
Eine Behörde braucht deshalb das Verschulden eines Mitarbeiters in der Absendestelle nicht gegen sich gelten zu lassen, wenn eine wirksame Ausgangskontrolle besteht oder der Mitarbeiter zumindest auf die Bedeutung und Eilbedürftigkeit des Schriftstücks ausdrücklich hingewiesen wurde (BFH-Beschluss vom 10. Juli 1996 II R 12/96, BFH/NV 1997, 47).
Daher ist auch eine Behörde zu einer wirksamen Postausgangskontrolle verpflichtet. Eine wirksame Postausgangskontrolle setzt voraus, dass die Absendung des fristwahrenden Schriftsatzes, d.h. die Übergabe des Schriftstücks an die Post durch eine Person kontrolliert wird, die den gesamten Bearbeitungsvorgang überwachen kann. Die einfache Zuleitung oder kommentarlose Übergabe des jeweiligen Schriftstücks an die amtsinterne Postausgangsstelle reichen hierfür ebenso wenig aus wie ein bloßer Abgangsvermerk der Stelle, die das Schriftstück an diese Postausgangsstelle weiterleitet, weil dadurch noch nicht ausreichend sichergestellt ist, dass das Schriftstück auch tatsächlich unmittelbar zur Weiterbeförderung an die Post gelangt. Vielmehr ist erforderlich, dass die ordnungsgemäße Absendung eines fristwahrenden Schriftsatzes durch einen Absendevermerk der Poststelle in den Akten festgehalten wird (BFH-Beschluss in BFH/NV 2007, 1508, m.w.N.).
Ist eine solche zentrale Ausgangskontrolle nicht vorgesehen, muss zumindest derjenige, der den Vorgang zuletzt bearbeitet hat oder an der Bearbeitung beteiligt war, die mit der Absendung beauftragte Poststelle auf die Frist und die Wichtigkeit des Schriftstücks hinweisen; die tatsächliche Übergabe der Briefsendung an die Post muss in der Akte vermerkt werden (BFH-Beschluss in BFH/NV 1997, 47).
b) Nach den Ausführungen der Familienkasse zur Organisation der Postausgangsstelle ist eine wirksame Ausgangskontrolle nicht gewährleistet.
Die allgemeine Anweisung an die mit der Versendung beauftragten Angestellten der Poststelle, Schreiben an die Gerichte --anders als den innerdienstlichen Schriftverkehr-- immer einzeln und so schnell wie möglich mit der Post zu versenden, reicht nicht aus, um die richtige Versandart und den rechtzeitigen Eingang bei Gericht sicherzustellen. Aus den offen der Absendestelle zugeleiteten Schriftsätzen ist für die Mitarbeiter der Poststelle in der Regel nicht erkennbar, ob es sich um einen fristwahrenden Schriftsatz handelt, auf dessen pünktliche Absendung besonders zu achten ist. Auch ist für die Mitarbeiter nicht immer eindeutig erkennbar, ob der Schriftsatz für ein Gericht bestimmt ist. So wird die Bezeichnung "Bundesfinanzhof" von Personen, die mit der Finanzgerichtsbarkeit nicht vertraut sind, häufig als eine Behörde der Finanzverwaltung angesehen. Werden die Behördenpost und die Gerichtspost auf unterschiedliche Weise versendet, ist sicherzustellen, dass die fristwahrenden Schreiben besonders gekennzeichnet werden, um auszuschließen, dass sie über andere Behörden ausgetauscht werden und dadurch verspätet beim Gericht eingehen.
c) Wie die Familienkasse selbst vorgetragen hat, hat die Verfasserin der Revisionsbegründung die Angestellte S auch nicht auf die Bedeutung und Eilbedürftigkeit des Schriftstücks hingewiesen.
d) Zudem ist der Vortrag, die Angestellte S sei über die Bedeutung und Behandlung der Gerichtspost belehrt worden und habe den Schriftsatz nur versehentlich in das Postaustauschfach gelegt, nicht in der erforderlichen Form glaubhaft gemacht worden. Nach § 155 FGO i.V.m. § 294 Abs. 2 ZPO wäre als präsentes Beweismittel eine dienstliche Erklärung oder eidesstattliche Versicherung der für die Fristversäumnis als verantwortlich bezeichneten Mitarbeiterin vorzulegen gewesen.
Fundstellen