Entscheidungsstichwort (Thema)
Änderung des angefochtenen ESt-Bescheids in der Revisionsinstanz
Leitsatz (NV)
1. Auch in einer möglichen künftigen gesetzlichen Regelung kann eine (tatsächliche) Ungewißheit über die Voraussetzungen für die Entstehung einer Steuer i. S. des § 165 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 liegen (Bestätigung von BFHE 165, 162, BStBl II 1991, 868).
2. Die Änderung eines ESt-Bescheids durch Beifügung eines Vorläufigkeitsvermerks kann auch dann ein selbständiger Steuerbescheid sein, wenn das Zahlenwerk aus dem Ursprungsbescheid nicht wiederholt worden ist.
Normenkette
AO 1977 § 165 Abs. 1; FGO §§ 68, 123
Tatbestand
Mit der Klage machten die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) Unterhaltszahlungen an die Mutter des Klägers als außergewöhnliche Belastung geltend. Die Klage hatte Erfolg.
Nachdem der Senat die Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts (FG) zugelassen hatte, rügte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) mit seiner Revision die Verletzung materiellen Rechts.Während des Revisionsverfahrens erklärte das FA mit Schreiben vom 29. Juli 1991 den angefochtenen Einkommensteuerbescheid für 1984 (Streitjahr) hinsichtlich der Höhe des Grundfreibetrags und der Kinderfreibeträge für vorläufig. Das Schreiben ist mit ,,Bescheid für 1984 über Einkommensteuer und Kirchensteuer" überschrieben. Einleitend heißt es, daß die im Bescheid vom 14. Juni 1985 festgesetzte Einkommensteuer in Höhe von . . . DM und die Kirchensteuer in Höhe von . . . DM bestehen bleiben; das weitere Zahlenwerk aus dem ursprünglichen Steuerbescheid ist nicht wiederholt worden. Am Schluß des Schreibens ist ausgeführt, die Änderung der bisherigen Steuerfestsetzung ergehe gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 a i. V. m. § 132 der Abgabenordnung (AO 1977). Dem Schreiben war ferner eine Rechtsbehelfsbelehrung (Einspruch) beigefügt.
Mit Schreiben vom 31. Juli und 11. September 1991 forderte die Geschäftsstelle des Senats, jeweils unter Fristsetzung, den Kläger auf, mitzuteilen, ob er den geänderten Bescheid gemäß §§ 68, 121 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des Verfahrens erklären wolle. Da diese Schreiben unbeantwortet blieben, regte der Vorsitzende des erkennenden Senats mit Schreiben vom 24. Oktober 1991 erneut, unter letztmaliger Fristsetzung bis zum 15. November 1991, an, den Antrag nach § 68 FGO zu stellen. Er wies gleichzeitig darauf hin, daß die Verfahrensbeteiligten auf mündliche Verhandlung verzichtet hätten und nicht die Absicht bestehe, einen Termin zur mündlichen Verhandlung zu bestimmen. Auch dieses Schreiben blieb unbeantwortet.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Finanzamts ist zulässig. Denn sie ist fristgerecht eingelegt und fristgerecht und ordnungsgemäß begründet worden. Eine Revision wird nicht dadurch unzulässig, daß das FA einen Änderungsbescheid erläßt und der Kläger nicht beantragt, diesen Bescheid zum Gegenstand des Verfahrens zu machen. Wenn der Kläger seinen Klageantrag der veränderten verfahrensrechtlichen Lage nicht anpaßt, ist vielmehr davon auszugehen, daß er sein ursprüngliches Klagebegehren aufrechterhält (Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 5. März 1979 GrS 4/78, BFHE 127, 147, BStBl II 1979, 375). Das FA hat deshalb ein berechtigtes Interesse an der Fortführung des Revisionsverfahrens, zumal es dem Kläger unbenommen ist, bis zur Rechtskraft der Entscheidung über die Revision den bisher unterlassenen Antrag nach § 68 FGO zu stellen (vgl. BFH-Beschluß vom 29. Mai 1990 VII R 67/87, BFH/NV 1991, 175; BFH-Urteile vom 14. November 1989 VIII R 102/87, BFHE 160, 100, BStBl II 1990, 545; vom 17. Oktober 1990 I R 36/88, NV).
Die Revision ist auch begründet. Denn die Klage ist unzulässig geworden. Dem Kläger, der trotz Aufforderung keinen Antrag nach § 121 i. V. m. § 68 FGO gestellt hat, fehlt das Rechtsschutzinteresse. Der Einkommensteuerbescheid vom 14. Juni 1985, gegen den sich die Klage richtet, ist durch eine neue - inzwischen bestandskräftig gewordene - Regelung im Einkommensteuerbescheid vom 29. Juli 1991 ersetzt worden. Die Klage ist deshalb als unzulässig abzuweisen (vgl. BFH-Entscheidungen vom 24. November 1982 II R 172/80, BFHE 137, 6, BStBl II 1983, 237; vom 28. Mai 1968 IV R 110/67, BFHE 92, 332, BStBl II 1968, 541 zur Änderung während des Klageverfahrens).
Dagegen kann nicht eingewandt werden, der ursprüngliche Bescheid habe gar nicht für vorläufig erklärt werden können. Zwar kann eine Steuerfestsetzung nach § 165 AO 1977 nur im Hinblick auf ungewisse Tatsachen, nicht aber hinsichtlich der steuerrechtlichen Beurteilung von Tatsachen für vorläufig erklärt werden (ständige Rechtsprechung, z. B. BFH-Urteil vom 25. April 1985 IV R 64/83, BFHE 143, 500, BStBl II 1985, 648, m. w. N.). Eine ungewisse Tatsache in diesem Sinne ist aber auch die Ungewißheit darüber, wie der Gesetzgeber die durch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) notwendig werdende Neuregelung gestaltet. Das BVerfG hat deshalb eine vorläufige Steuerfestsetzung auch in dem Fall für erforderlich gehalten, daß eine verfassungswidrige Norm aus Gründen der Rechtssicherheit bis zu einer Neuregelung weiterhin anzuwenden ist (BVerfG-Urteil vom 3. November 1982 1 BvR 620/78 u. a., BVerfGE 61, 319, BStBl II 1982, 717, unter D I). Gegen die Zulässigkeit einer vorläufigen Steuerfestsetzung im Änderungswege bestehen deshalb auch im Streitfall, in dem das FA den gegen die Höhe der Kinderfreibeträge und des Grundfreibetrags angestrengten Verfassungsbeschwerden Rechnung getragen hat, keine Bedenken.
Bei der im Schreiben des FA vom 29. Juli 1991 enthaltenen Verfügung handelt es sich auch um einen selbständigen Änderungsbescheid und nicht etwa nur um einen Vorläufigkeitsvermerk für den ursprünglichen Bescheid. Daß das FA hier einen selbständigen Steuerbescheid erlassen wollte, ergibt sich aus der Überschrift, aus der Wiederholung des festgesetzten Einkommensteuerbetrages, der Angabe der Änderungsvorschrift sowie der Beifügung einer Rechtsbehelfsbelehrung. Unerheblich ist, daß der Änderungsbescheid keine Begründung der Steuerfestsetzung als solcher enthält, insbesondere, daß das Zahlenwerk aus dem Erstbescheid nicht wiederholt wurde. Dabei kann offenbleiben, inwieweit die Berechnungsgrundlagen zum notwendigen Inhalt eines Einkommensteuerbescheids zählen (§ 121 AO 1977). Denn es entspricht der Rechtsprechung des BFH, daß auch essentiell notwendige Angaben eines Steuer- bzw. Haftungsbescheids durch eine Bezugnahme auf Anlagen oder Unterlagen, die sich bereits in den Händen des Steuerpflichtigen befinden, ersetzt werden können (Entscheidungen vom 1. August 1985 VI R 28/79, BFHE 144, 244, BStBl II 1985, 664, 668; vom 18. Juli 1985 VI R 208/82, BFHE 145, 29, BStBl II 1986, 152, 153; vom 6. Mai 1988 VI R 37/83, BFH/NV 1989, 343; vom 28. November 1990 VI R 115/87, BFHE 163, 536, BStBl II 1991, 488). Diese Rechtsprechung bezieht sich auf Mindestangaben zur Bestimmtheit von Lohnsteuer-Pauschalierungsbescheiden bzw. Lohnsteuer-Haftungsbescheiden. Ebenso wie es aber zur Wirksamkeit eines derartigen Bescheids nicht notwendig ist, daß zur Bestimmtheit erforderliche - umfangreiche - Angaben im Bescheid selbst wiederholt werden, wenn sich die spezifierten Angaben aus einer Anlage oder einer sonstigen Unterlage ergeben, die die Behörde dem Steuerpflichtigen bereits übersandt hat, bedarf es im Falle einer Änderung der Steuerfestsetzung zur Wirksamkeit des Änderungsbescheids nicht einer Wiederholung der nicht geänderten Angaben aus dem Ursprungsbescheid. Eine solche Wiederholung kann vielmehr durch eine ausdrückliche Bezugnahme auf den Ursprungsbescheid ersetzt werden. Dies ist hier geschehen, da das FA in dem Änderungsbescheid vermerkt hat, daß es bei der Höhe der bisher festgesetzten Einkommensteuer verbleibt und die Steuerfestsetzung nunmehr lediglich in bestimmter Hinsicht vorläufig erfolgt.
Fundstellen