Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachforderungszinsen bei verzögerlicher Bearbeitung einer Steuererklärung - Berufung auf den Grundsatz von Treu und Glauben - Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO 1977 als Grundlagenbescheid
Leitsatz (amtlich)
Der Grundsatz von Treu und Glauben steht einer Festsetzung von Nachforderungszinsen gemäß § 233a AO 1977 grundsätzlich auch dann nicht entgegen, wenn der Veranlagungsbeamte die Bearbeitung der Steuererklärung schuldhaft verzögert.
Orientierungssatz
1. Im allgemeinen ist die Ausübung eines Rechts oder die Geltendmachung eines Anspruchs als rechtsmißbräuchlich, wenn der Berechtigte diese durch ein gesetzwidriges, sittenwidriges oder vertragswidriges, d.h. unredliches Verhalten erworben hat. Auf den Grundsatz von Treu und Glauben kann sich aber nur der Beteiligte berufen, dem aus dem schuldhaften Verhalten des anderen ein Nachteil entsteht oder zu entstehen droht. Zieht derjenige, der sich Gesetzverletzungen oder Pflichtverletzungen eines anderen beruft, aus der Gesetzverletzung oder Pflichtverletzung nur Vorteile, so ist es aus dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben nicht zu beanstanden, wenn der andere aufgrund entsprechender vertraglicher oder gesetzlicher Rechtsgrundlage die Herausgabe dieses Vorteils erlangt.
2. Das Verfahren über einen Folgebescheid ist grundsätzlich auszusetzen, um den Erlaß eines Grundlagenbescheids herbeizuführen. Eine Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO 1977 ist ein Grundlagenbescheid für den Festsetzungsbescheid (vgl. BFH-Rechtsprechung). Im Streitfall konnte dahinstehen, ob bei der Festsetzung von Nachforderungszinsen gemäß § 233a AO 1977 für die Anwendung des § 163 AO 1977 Raum ist.
Normenkette
AO 1977 § 233a; BGB § 242; AO 1977 § 163; FGO § 74
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) gab seine Einkommensteuererklärung für 1989 am 20.Juli 1990 beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) ab. Der Einkommensteuerbescheid erging am 30.Juli 1991 und führte zu einer Steuernachzahlung in Höhe von 32 460 DM, die am 2.September 1991 fällig wurde. Das FA setzte Nachzahlungszinsen in Höhe von 810 DM fest. Gegen den Zinsbescheid legte der Kläger Einspruch ein, der ebenso wie die Klage keinen Erfolg hatte.
Der Kläger beantragt mit der Revision, das Urteil des Finanzgerichts (FG) und den Zinsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist als unbegründet zurückzuweisen (§ 126 Abs.2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
1. Führt eine Steuerfestsetzung der Einkommensteuer-, Körperschaft-, Vermögen-, Umsatz- oder Gewerbesteuer zu einer Steuernachforderung oder Steuererstattung, so ist diese nach § 233a Abs.1 der Abgabenordnung (AO 1977) i.d.F. des Steuerreformgesetzes (StRG) 1990 vom 25.Juli 1988 zu verzinsen. Diese Norm gilt für alle Steueransprüche, die nach dem 31.Dezember 1988 entstehen (vgl. Art.15 Nr.3 StRG). Der Zinslauf beginnt grundsätzlich 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist, für die Einkommensteuer 1989 mithin am 1.April 1991. Er endet mit der Fälligkeit der Steuernachforderung, spätestens 4 Jahre nach seinem Beginn, im Streitfall also am 2.September 1991 (§ 233a Abs.2 AO 1977). Bei einer Steuernachforderung in Höhe von 32 460 DM errechnet sich gemäß § 233a Abs.3, § 238 AO 1977 ein Nachforderungszins in Höhe von 810 DM.
2. Der Festsetzung des Nachforderungszinses in dieser Höhe stehen die §§ 152, 346 AO 1977 oder § 301 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) nicht entgegen.
§ 152 Abs.1 Satz 2 AO 1977 betrifft das Absehen von der Festsetzung eines Verspätungszuschlages und erfaßt tatbestandsmäßig nicht den Nachforderungszins. § 233a AO 1977 enthält eine entsprechende Regelung nicht.
§ 346 AO 1977 betrifft die Kosten einer Vollstreckung, die bei richtiger Behandlung der Sache nicht entstanden wären. Die Festsetzung von Nachforderungszinsen ist keine Vollstreckungsmaßnahme (vgl. hierzu § 328 Abs.1 AO 1977).
Auch § 301 BGB, wonach für die Zeit des Gläubigerverzugs keine Zinsen zu zahlen sind, greift nicht ein (a.A. Stakemann, Der Betrieb --DB-- 1991, 1197). Dabei kann offenbleiben, ob eine denkbare Anwendung der §§ 293 ff. BGB im Verwaltungsrecht auf öffentlich-rechtliche Verträge beschränkt bleibt (vgl. z.B. § 62 Satz 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG). Der Kläger hat dem FA keine Zahlung angeboten, insbesondere hat er auch nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, durch einen Antrag auf Anpassung der Einkommensteuervorauszahlungen einen Rechtsgrund für eine Nachzahlung zu schaffen (vgl. § 37 Abs.3 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes --EStG--).
3. Der Grundsatz von Treu und Glauben steht dem Erlaß des Zinsbescheides nicht entgegen.
Das FA ist grundsätzlich verpflichtet, die nach dem Gesetz entstandenen Steuer- und Zinsansprüche geltend zu machen. Ausnahmsweise kann es aber nach dem allgemein gültigen Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) an der Geltendmachung und Durchsetzung entstandener Ansprüche gehindert sein (vgl. z.B. Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 18.April 1991 V R 67/86, BFH/NV 1992, 217 m.w.N.; vom 18.Dezember 1991 X R 38/90, BFHE 167, 1, BStBl II 1992, 504; vom 9.August 1989 I R 181/85, BFHE 158, 31, BStBl II 1989, 990).
Welche Anforderungen der Grundsatz von Treu und Glauben an die Beteiligten eines Steuerrechtsverhältnisses stellt, ist jeweils anhand der Umstände des Einzelfalles zu entscheiden. Im allgemeinen wird die Ausübung eines Rechts oder die Geltendmachung eines Anspruchs als rechtsmißbräuchlich zu beurteilen sein, wenn der Berechtigte diese durch ein gesetz-, sitten- oder vertragswidriges, d.h. unredliches Verhalten erworben hat (vgl. z.B. Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 52.Aufl., § 242 Rdnr.43; Roth in Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch --MünchKomm--, § 242 Rdnr.253 ff.). Auf den Grundsatz von Treu und Glauben kann sich aber nur der Beteiligte berufen, dem aus dem schuldhaften Verhalten des anderen ein Nachteil entsteht oder zu entstehen droht (vgl. Palandt, a.a.O.). Zieht derjenige, der sich auf Gesetz- oder Pflichtverletzungen eines anderen beruft, aus der Gesetz- oder Pflichtverletzung nur Vorteile, so ist es aus dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben nicht zu beanstanden, wenn der andere aufgrund entsprechender vertraglicher oder gesetzlicher Rechtsgrundlage die Herausgabe dieses Vorteils verlangt. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze verletzt die Geltendmachung von Nachforderungszinsen bei verzögerlicher Bearbeitung einer Steuererklärung nicht Treu und Glauben, selbst wenn --wie der Kläger im Klage- und Revisionsverfahren unwidersprochen vorgetragen hat-- der Sachbearbeiter des FA die Steuerakte des Klägers in fahrlässiger Weise verlegt haben sollte und aus diesem Grund der Einkommensteuerbescheid 1989 im Vergleich zur üblichen Bearbeitungsfrist verspätet ergangen sein sollte.
Durch den verspäteten Erlaß des Einkommensteuerbescheides für 1989 sind dem Kläger, da dieser Bescheid zu Steuernachzahlungen führte, Liquiditätsvorteile entstanden, die durch § 233a AO 1977 aus Gründen der Gleichmäßigkeit der Besteuerung jedenfalls für die Zeit nach Ablauf von 15 Monaten nach Entstehen der Steuer abgeschöpft werden sollen (vgl. Gesetzentwurf zum StRG 1990, BTDrucks 11/2157 S.194; vgl. auch Bericht der Bundesregierung über die Möglichkeit der Einführung einer Vollverzinsung im Steuerrecht, BTDrucks 8/1410 S.4; Tipke/Kruse, Abgabenordnung- Finanzgerichtsordnung, § 233a AO 1977 Tz.3). Es kann im Streitfall dahinstehen, ob der Grundsatz von Treu und Glauben der Festsetzung von Nachforderungszinsen entgegensteht oder ob Nachforderungszinsen wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen sind, wenn der Steuerpflichtige entgegen der § 233a AO 1977 zugrunde liegenden Annahme die für die Nachzahlung benötigten Geldbeträge im Hinblick auf bevorstehende Steuernachzahlungen unverzinslich oder mit einem Zinssatz von unter 6 % anlegte u n d ein schuldhaftes Verhalten eines FA-Bediensteten zu einer übermäßigen Bearbeitungszeit und damit zur Entstehung von Nachforderungszinsen führte. Nach eigenem Vortrag des Klägers hat dieser die zur Begleichung der zu erwartenden Steuerschuld benötigten Geldmittel jeweils monatlich festgelegt. Die Zinsen für Monatsgelder betrugen in der Zeit von April 1991 bis August 1991 stets weit mehr als 6 %. Dies ist gerichtsbekannt (vgl. auch Stakemann, DB 1991, 1197; Monatsbericht der Deutschen Bundesbank vom September 1991 S.15 +). Das möglicherweise schuldhafte Verhalten eines Finanzbeamten verschaffte daher dem Kläger Liquiditätsvorteile, die eine Verzinsung des geschuldeten Betrags von 6 % übersteigen. Der Grundsatz von Treu und Glauben gebietet nicht, diesen finanziellen Vorteil einer verzögerten Bearbeitung noch dadurch zu vergrößern, daß man von der Festsetzung von Nachforderungszinsen absieht.
Der Kläger beruft sich zu Unrecht darauf, daß die aus der Festlegung von Monatsgeldern geflossenen Zinsen gemäß § 20 Abs.1 Nr.7 EStG bei der Veranlagung 1991 mit dem Spitzensteuersatz zu versteuern seien und daher der Liquiditätsvorteil noch um die hierauf entfallende Einkommensteuer zu kürzen sei. Die Nachforderungszinsen sind gemäß § 10 Abs.1 Nr.5 EStG i.d.F. des StRG 1990 als Sonderausgaben abzusetzen. Damit wird letztlich nur der Vorteil aus der verzinslichen Geldanlage besteuert, der den gesetzlichen Zinssatz von 6 % übersteigt.
Bei dieser Sachlage kann offenbleiben, ob im Rahmen der Grundsätze von Treu und Glauben der Kläger sich entgegenhalten muß, daß bei der von ihm behaupteten üblichen Bearbeitungsfrist von 3 bis 6 Monaten die Steuerschuld bereits ab November 1990 hätte beglichen werden müssen, so daß durch die verzögerte Bearbeitung der tatsächlich gezogene Zinsvorteil höher ist als die in der Zeit von April bis August 1991 erwirtschafteten Festgeldzinsen. Das Gesetz geht zwar im Grundsatz davon aus, daß die Zinsvorteile innerhalb von 15 Monaten nach entstehender Steuerschuld dem Steuerpflichtigen verbleiben. Im Rahmen der einzelfallbezogenen Prüfung eines Rechtsmißbrauchs erscheint die Berücksichtigung derartiger Vorteile hingegen nicht von vornherein ausgeschlossen.
4. Es kann dahinstehen, ob bei der Festsetzung von Nachforderungszinsen für die Anwendung des § 163 AO 1977 Raum ist. Dafür spricht, daß nach § 239 Abs.1 AO 1977 auf Zinsen die für die Steuern geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden sind (vgl. auch Tipke/Kruse, a.a.O., § 239 Tz.1). Andererseits enthält § 234 Abs.2 AO 1977 für Billigkeitsmaßnahmen eine ausdrückliche Sonderregelung, die in § 233a AO 1977 fehlt. Über Billigkeitsmaßnahmen ist jedenfalls nicht im Steuer- oder Zinsfestsetzungsverfahren, sondern in einem gesonderten Verfahren zu entscheiden (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 13.April 1989 IV R 196/85, BFHE 156, 489, BStBl II 1989, 614, unter Nr.5, m.w.N.; Tipke/Kruse, a.a.O., § 163 Tz.7, m.w.N.).
Das Verfahren ist auch nicht gemäß § 74 FGO auszusetzen. Zwar ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH das Verfahren über einen Folgebescheid grundsätzlich auszusetzen, um den Erlaß eines Grundlagenbescheides herbeizuführen (vgl. z.B. BFH- Urteil vom 24.April 1979 VIII R 57/76, BFHE 128, 136, BStBl II 1979, 678; BFH-Urteil vom 19.Juli 1990 IV R 11/89, BFH/NV 1991, 649). Auch ist eine Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO 1977 ein Grundlagenbescheid für den Festsetzungsbescheid (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 26.Februar 1991 IX R 95/88, BFHE 163, 562, BStBl II 1991, 572). Nach eigenem Vortrag des Klägers ist aber sein Antrag auf Erlaß mit Schreiben des FA vom 3.März 1992 abgelehnt worden. Dieser Bescheid ist, da der Kläger keine Beschwerde gemäß § 349 Abs.1 Satz 1 AO 1977 eingelegt hat, gemäß § 355 Abs.1 Satz 1, § 356 Abs.2 AO 1977 mittlerweile bestandskräftig geworden (vgl. auch § 348 Abs.1 Nr.2, letzter Halbsatz AO 1977; BFH in BFHE 156, 489, BStBl II 1989, 614, unter Nr.5; Tipke/Kruse, a.a.O., § 163 AO 1977 Tz.7 a), so daß eine Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils zum Zwecke der Aussetzung des Verfahrens gemäß § 74 FGO entfällt.
Fundstellen
Haufe-Index 64495 |
BFHE 172, 304 |
BFHE 1994, 304 |
BB 1994, 130 |
BB 1994, 130-131 (LT) |
BB 1994, 59 |
DB 1994, 128 (L) |
DStR 1994, 204 (KT) |
DStZ 1994, 189 (KT) |
HFR 1994, 126-127 (LT) |
StE 1994, 10 (K) |