Leitsatz (amtlich)
Abweichend von dem Grundsatz, daß im Billigkeitsverfahren in der Regel keine Einwendungen mehr erhoben werden können, die in einem Rechtsmittelverfahren gegen den Steuerbescheid hätten vorgebracht werden müssen, kann die Verletzung der Grundsätze von Treu und Glauben auch im Billigkeitsverfahren geltend gemacht werden (Anschluß an die BFH-Urteile vom 6. August 1963 VII 44/62 U, BFHE 77, 535, BStBl III 1963, 515, und vom 19. Januar 1965 VII 22/62 S, BFHE 81, 572, BStBl III 1965, 206).
Normenkette
AO § 131
Tatbestand
Streitig ist, ob die Rückforderung von Investitionszulagen für die Jahre 1964 bis 1968 nach § 131 Abs. 1 Satz 1 AO sachlich unbillig ist.
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) betreibt in Berlin (West) ein Güterfernverkehrsunternehmen. Auf ihren Antrag gewährte das FA für die Kalenderjahre 1964 bis 1968 Investitionszulagen u. a. für angeschaffte Kraftfahrzeuge (Kfz) und Anhänger. Auf Grund einer im November 1969 durchgeführten Betriebsprüfung schloß sich das FA der Auffassung des Betriebsprüfers an, daß der Klägerin die Investitionszulagen für einen Teil dieser Kfz und Anhänger zu Unrecht gewährt worden seien. Es forderte durch Bescheide vom 9. April 1970 für die Jahre 1964 bis 1968 Investitionszulagen im Gesamtbetrag von 92 419,61 DM zuzüglich Zinsen zurück. Diese Bescheide wurden unanfechtbar.
Die Klägerin beantragte beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Senator für Finanzen) mit Schreiben vom 12. Mai 1970, die zurückgeforderten Investitionszulagen einschließlich der Zinsen aus Gründen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen. Der Senator für Finanzen lehnte durch Bescheid vom 12. August 1970 diesen Antrag ab. Die dagegen erhobene Klage wurde vom FG abgewiesen.
Die Klägerin beantragt mit der Revision, unter Aufhebung des FG-Urteils und der Entscheidung des Senators für Finanzen vom 12. August 1970 dem Erlaßantrag stattzugeben. Es wird Verletzung des § 131 AO gerügt. Die Revision wird im wesentlichen wie folgt begründet: Das FG verkenne die Wirkung eines veröffentlichten Erlasses der obersten Finanzbehörde eines Landes, mit dem zur Auslegung eines im Steuergesetz enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffes Stellung genommen werde. Es handle sich keinesfalls nur um einen internen Verwaltungserlaß. Das FG verkenne außerdem die Auslegung des Begriffs "Verbleiben" in diesem Erlaß. Die geforderte zeitliche und räumliche Bindung der Kfz an Berlin (West) habe danach so lange für gegeben erachtet werden sollen, als die Fahrzeuge in Berlin (West) polizeilich zugelassen gewesen seien und dort ihren Standort gehabt hätten. Der Erlaß enthalte ganz bewußt eine für den Steuerpflichtigen günstige Auslegung des Begriffs "Verbleiben". Diese Auslegung verstoße nicht gegen den Wortlaut der Vorschrift der §§ 14 und 19 BHG. Es habe durchaus die Möglichkeit bestanden, daß die Steuergerichte diese Gesetzesauslegung billigen würden. Deshalb habe die Klägerin darauf vertrauen können, daß bei einer abweichenden Gesetzesauslegung durch den BFH der Erlaß des Senators für Finanzen nicht rückwirkend außer Kraft gesetzt werden würde. Dieser Vertrauensschutz sei nicht dadurch beeinträchtigt worden, daß in einer verwaltungsinternen Rundverfügung des damaligen LFA Berlin vom 31. August 1961 eine andere Stellungnahme abgegeben worden sei. Denn diese Verfügung sei der Klägerin nicht bekanntgeworden. Der Erlaß vom 21. April 1961 habe für die Klägerin eine Vertrauensposition geschaffen, deren rückwirkende Beseitigung durch die Berliner Finanzverwaltung gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoße. Die Verwaltung habe die Klägerin bis zur Veröffentlichung des BFH-Urteils VI R 5/68 vom 17. Mai 1968 (BFHE 92, 392, BStBl II 1968, 570) in dem guten Glauben gelassen, daß die seinerzeit unter Berücksichtigung der Rechtsauslegung durch den Erlaß beantragte und gewährte Investitionszulage nicht zurückgefordert werden würde. Nach der Entscheidung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70 (BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603) gewähre § 131 Abs. 1 Satz 1 AO der Verwaltung zwar einen Ermessensspielraum, das Ermessen sei aber von den Gerichten auf Ermessensfehler hin überprüfbar.
Der Senator für Finanzen beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Das FG hat es mit Recht nicht als einen Ermessensverstoß angesehen, daß die Verwaltungsbehörden den Erlaß der Forderung auf Rückzahlung der Investitionszulagen abgelehnt haben.
Nach § 19 Abs. 7 Satz 1 BHG 1964 und 1968 sind auf die Investitionszulage nach dem Berlinhilfegesetz die Vorschriften des ersten und zweiten Teils der Reichsabgabenordnung entsprechend anwendbar. Es ist deshalb auch der Erlaß einer Forderung auf Rückzahlung der Investitionszulagen nach § 19 Abs. 5 BHG aus Billigkeitsgründen möglich, wenn die Voraussetzungen des § 131 Abs. 1 Satz 1 AO vorliegen. Diese Vorschrift erlaubt einen Ausgleich im Billigkeitswege nicht nur dann, wenn die Rückforderung gerade den einzelnen Steuerpflichtigen persönlich besonders hart trifft, sondern auch dann, wenn die Rückforderung in der Sache selbst unbillig ist. Nach ständiger Rechtsprechung kann eine Unbilligkeit in der Sache selbst nicht solchen Umständen entnommen werden, die der Gesetzgeber bewußt in Kauf genommen hat. Das gilt auch für die Folge der Versäumung gesetzlicher Fristen. Infolgedessen ist die Richtigkeit eines unanfechtbar gewordenen Bescheids im Verfahren nach § 131 AO grundsätzlich nicht mehr nachprüfbar (vgl. BFH-Urteil vom 3. März 1970 II 135/64, BFHE 99, 8, BStBl II 1970, 503, und die dort zitierten Entscheidungen). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz hat die Rechtsprechung nur in solchen Fällen zugelassen, in denen die Sach- und Rechtslage in dem vorangegangenen Bescheid offensichtlich falsch beurteilt worden ist. Diese Voraussetzung ist im Streitfall nicht erfüllt. Nach der Rechtsprechung des BFH (vgl. Urteil VI R 5/68) sind die angeschafften Kfz und Anhänger nicht mindestens drei Jahre seit ihrer Anschaffung in einem Betrieb in Berlin (West) verblieben, so daß die Rückforderung der für sie gezahlten Investitionszulage nach § 19 Abs. 5 BHG gerechtfertigt ist.
Eine weitere Ausnahme von dem Grundsatz, daß unanfechtbar gewordene Bescheide im Verfahren nach § 131 AO nicht mehr nachprüfbar sind, hat die Rechtsprechung für die Einwendungen zugelassen, die sich aus den Grundsätzen von Treu und Glauben ergeben (vgl. BFH-Urteile vom 6. August 1963 VII 44/62 U, BFHE 77, 535, BStBl III 1963, 515, und vom 19. Januar 1965 VII 22/62 S, BFHE 81, 572, BStBl III 1965, 206). Das FG hat unter Berücksichtigung auch dieser Grundsätze von Treu und Glauben mit Recht keine Verletzung des Ermessens darin gesehen, daß die Verwaltungsbehörden im Streitfall den Erlaß der Forderungen auf Rückzahlung der Investitionszulage abgelehnt haben. Das Gericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß es sich bei dem Erlaß des Senators für Finanzen vom 21. April 1961 um eine Verwaltungsanweisung handelt, mit deren Hilfe nur eine gleichmäßige Gesetzesanwendung durch die Verwaltungsbehörden erreicht, nicht aber eine Bindung i. S. einer Rechtsverordnung erzielt werden konnte und sollte (vgl. BFH-Urteil vom 15. Januar 1969 I 18/65, BFHE 95, 92, BStBl II 1969, 310, unter 4.). Nach ständiger Rechtsprechung des BFH können allgemeinen Verwaltungsanweisungen, wie z. B. den Richtlinien oder einer Ministerialentschließung, unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben nicht die gleichen Wirkungen beigemessen werden wie einer verbindlichen Zusage oder Auskunft für den Einzelfall, weil der Grundsatz von Treu und Glauben ein konkretes Verhältnis zwischen dem Steuerpflichtigen und dem FA voraussetzt, bei dem allein sich eine Vertrauenssituation bilden kann (vgl. Urteil vom 21. Dezember 1972 IV R 53/72, BFHE 107, 564, BStBl II 1973, 298).
Der Senat stimmt dem FG auch darin zu, daß aus dem Wortlaut dieser Verwaltungsanweisung nicht zwingend geschlossen werden kann, daß eine räumliche Bindung der Fahrzeuge an einen Betrieb in Berlin (West) für alle Zeit ohne weitere Prüfung anerkannt werden sollte, solange die Fahrzeuge in Berlin (West) polizeilich zugelassen waren und dort ihren Standort hatten. Die Einfügung der Worte "in der Regel" läßt auch die Deutung zu, daß die Vermutung, die Fahrzeuge würden infolge der polizeilichen Zulassung und Konzessionierung in Berlin (West) regelmäßig dorthin zurückkehren, durch tatsächliche Feststellungen widerlegt werden kann. Es muß weiter beachtet werden, daß die Voraussetzung des dreijährigen Verbleibens in einer in Berlin (West) belegenen Betriebstätte einen zusätzlichen Dauertatbestand bezeichnet, dessen vorzeitige Beendigung rückwirkend zum Erlöschen des zunächst einmal begründeten Anspruchs auf Gewährung einer Investitionszulage führt, also eine Art auflösender Bedingung für die Gewährung der Investitionszulage enthält (so für § 14 Abs. 2 BHG, BFH-Urteil vom 18. Februar 1965 IV 13/63 U, BFHE 82, 322, BStBl III 1965, 362). Selbst wenn man sich aber der gegenteiligen Auffassung der Klägerin anschließt, ist zu beachten, daß die Verwaltungsanweisung zu einer Zeit erging, als die Frage, was unter dem Begriff "Verbleiben" i. S. des § 19 Abs. 2 Satz 1 BHG zu verstehen ist, noch nicht durch die Rechtsprechung geklärt war. Diese Klärung ist erst durch das BFH-Urteil VI R 5/68 eingetreten. Es liegt also kein Fall vor, in dem eine bereits bestehende Rechtsprechung geändert wurde, so daß sich für die Verwaltung die Notwendigkeit ergeben hätte, eine Anpassungsregelung nach § 131 Abs. 2 AO für zurückliegende Fälle zu erlassen, die von den Steuergerichten hätte beachtet werden müssen (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 28. Februar 1964 VI 20/63 U, BFHE 79, 34, BStBl III 1964, 245). Es kann darin, daß die Verwaltung auf Grund der durch die Rechtsprechung geklärten Rechtslage danach gerechtfertigte Rückforderung der Investitionszulagen geltend macht, keine unbillige Härte erblickt werden. Es liegt schließlich entgegen der Auffassung der Klägerin auch keine Verletzung des Gleichheissatzes des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes deswegen vor, weil die Verwaltung die Rückforderung der Investitionszulage in manchen Fällen wegen Verjährung nicht mehr geltend machen kann.
Fundstellen
BStBl II 1975, 789 |
BFHE 1976, 103 |