Leitsatz (amtlich)
1. Um die Aussetzung von Beitreibungsmaßnahmen während des noch nicht bestandskräftig abgeschlossenen Stundungsverfahrens zu erreichen, kann sich der Vollstreckungsschuldner auf § 333 AO schon berufen, bevor das FA konkrete Vollstreckungsmaßnahmen ergriffen hat.
2. Das FA muß nicht von Amts wegen andere, denselben Vollstreckungsschuldner betreffende Steuerrechtsverhältnisse auf mögliche Steuererstattungsansprüche bei der Frage der Unbilligkeit der Zwangsvollstreckung untersuchen. Es ist in erster Linie Sache des Vollstrekkungsschuldners, hierauf durch substantiierte Angaben hinzuweisen.
Normenkette
AO §§ 230, 242, 333; FGO § 69; BeitrO §§ 25, 31
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) lehnte die Anträge des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) auf Erlaß seiner Steuerrückstände für die Veranlagungszeiträume 1965 bis 1969 und auf deren Stundung ab. Die dagegen eingelegten Beschwerden wies die OFD als unbegründet zurück. Die den Erlaß betreffende Beschwerdeentscheidung wurde bestandskräftig; die die Stundung betreffende vom 31. Oktober 1973 focht der Kläger ergebnislos mit der Klage an. Über die dagegen eingelegte Revision hat der BFH noch nicht entschieden. Mit Schreiben vom 13. November 1973 teilte das FA dem Kläger mit, es widerrufe die bei Eingang der Beschwerden ergangene Anordnung vom 19. Juli 1973, von Beitreibungsmaßnahmen bis zur Beschwerdeentscheidung der OFD abzusehen, und forderte ihn unter Androhung der Beitreibung auf, die Steuerrückstände bis zum 1. Dezember 1973 zu zahlen. Nach erfolgloser Beschwerde wies das FG die Klage ab.
Mit der Revision macht der Kläger geltend, daß er durch den beim BFH unter dem Aktenzeichen X anhängigen Rechtsstreit eine Stundung erreichen wolle. Die Einleitung von Beitreibungsmaßnahmen würde nicht nur vollendete Tatsachen schaffen und einer höchstrichterlichen Entscheidung vorgreifen, sondern ihm auch durch die zwangsweise Verwertung von Vermögensgegenständen einen nicht mehr korrigierbaren Schaden zufügen. Im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG müsse eine Ablehnung der begehrten Aussetzung von Beitreibungsmaßnahmen als grob unbillig erscheinen. § 242 AO bzw. § 69 FGO schlössen eine Billigkeitsmaßnahme nach § 333 AO nicht aus, selbst wenn der Rechtsbehelf keine Aussicht auf Erfolg habe. § 242 AO betreffe den Fall des zahlungsfähigen, aber zahlungsunwilligen Steuerpflichtigen. Er, der Kläger, sei aber im Rahmen seiner Möglichkeiten zahlungswillig. Zudem habe er Steuererstattungsansprüche von insgesamt rd. 13 000 DM, die der OFD zumindest teilweise bei Erlaß der Beschwerdeentscheidung bekanntgewesen seien. Das FA habe aber bis Januar 1975 keine vorläufigen Veranlagungen durchgeführt. Das FG habe außer acht gelassen, daß er bereits seit geraumer Zeit monatliche Raten von 100 DM leiste und darüber hinaus angeboten habe, höhere Zahlungen im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden Mittel zu leisten. Zu beanstanden sei, daß das FG seinem Antrag insoweit nicht entsprochen habe, als den Steuerrückständen erwartete Steuererstattungen gegenüberstünden und hierüber in den Gründen keine Erwägungen angestellt worden seien.
Der Kläger beantragt, das FA unter Aufhebung der Vorentscheidung zu verpflichten, Beitreibungsmaßnahmen wegen der Steuerabschlußzahlungen 1965 bis 1969 bis zur Entscheidung des BFH über die Revision in der Stundungssache auszusetzen und die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Das FG hat sich nicht mit der Frage befaßt, welche Verfügung der Verwaltung hier mit Klage angefochten war. Der Kläger hatte im Zusammenhang mit den schwebenden Verfahren auf Erlaß und Stundung seiner Steuerschulden bei Einlegung der Beschwerde gegen den eine Stundung versagenden Bescheid des FA gleichzeitig beantragt, daß das FA vor dem rechtskräftigen Abschluß des Erlaßverfahrens Vollziehungsmaßnahmen unterlasse. Das FA hatte dem nur insoweit entsprochen, als es durch die Verfügung vom 19. Juli 1973 mitteilte, es werde widerruflich von Beitreibungsmaßnahmen absehen, bis die OFD über den in gleicher Sache anhängigen Streit entschieden habe. Nachdem diese Entscheidung getroffen war, widerrief es mit Verfügung vom 13. November 1973 die Anordnung, von Beitreibungsmaßnahmen abzusehen, und ersuchte um Zahlung der Rückstände zur Vermeidung von Beitreibungsmaßnahmen.
Die OFD war der Ansicht, die nach Bekanntgabe dieser zweiten Verfügung erhobene Beschwerde des Klägers sei, soweit mit ihr eine Anfechtung dieser zweiten Verfügung beabsichtigt sei, unzulässig, weil die Verfügung lediglich den Inhalt der ersten wiederholt habe; die Beschwerde sei aber umzudeuten in eine solche gegen die mit der ersten Verfügung ausgesprochene Ablehnung der Einstellung von Vollstreckungsmaßnahmen bis zur bestandskräftigen Entscheidung. Die Beschwerde sei insoweit auch rechtzeitig erhoben, da die Beschwerdefrist wegen des Fehlens einer Rechtsmittelbelehrung in der ersten Verfügung noch nicht abgelaufen sei.
Der OFD kann nicht darin zugestimmt werden, daß die zweite Verfügung nicht anfechtbar gewesen sei. Sie widerrief die bereits zeitlich begrenzt gewährte Einstellung der Vollstreckung und lehnte damit eine weitere Einstellung ab. Diese Verfügung war beschwerdefähig.
OFD und FG haben im Ergebnis zu Recht überprüft, ob das FA mit der angefochtenen Verfügung eine Maßnahme nach § 333 AO abgelehnt hatte. Sie haben dabei unterstellt, daß eine solche Maßnahme im derzeitigen Stadium überhaupt hätte getroffen werden können. Das FG ist dabei davon ausgegangen, daß § 333 AO erst dann anwendbar sei, wenn die Zwangsvollstreckung bereits eingeleitet worden ist, weil nur eine bereits eingeleitete Vollstreckung einstweilen eingestellt oder beschränkt und nur eine bereits getroffene Vollstreckungsmaßnahme aufgehoben werden könne (vgl. Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 7. Aufl., § 333 AO Anm. 2, Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 1. bis 6. Aufl., § 333 AO Anm. 7). Dem ist im Grundsatz zuzustimmen.
Soll die Zwangsvollstreckung einstweilen eingestellt werden, so hat dies jedoch nicht zur Voraussetzung, daß bereits konkrete Vollstreckungsmaßnahmen ergriffen worden sind. Nach den allerdings die Gerichte nicht bindenden Verwaltungsvorschriften der §§ 25 ff. BeitrO hat die Vollstreckungsstelle des FA, nachdem ihr die Rückstandsanzeige zugeleitet worden ist, zu prüfen, ob Maßnahmen der Zwangsvollstreckung geboten sind und ob diese nach den Vermögens- und Einkommensverhältnissen des Vollstreckungsschuldners nicht aussichtslos erscheinen (§ 25 Abs. 1 und 2 BeitrO). Wird ein Antrag auf Stundung gestellt, so hat darüber die Veranlagungsstelle zu entscheiden (§ 31 Abs. 1 BeitrO). Die Vollstreckungsstelle aber hat nach § 31 Abs. 2 BeitrO darüber Entschließung zu fassen, ob die Entscheidung über die Anordnung der Zwangsvollstreckung auszusetzen ist, bis die Entscheidung über den Stundungsantrag vorliegt. Bereits in diesem Stadium des Vollstreckungsverfahrens muß das FA auch von Amts wegen prüfen, ob geplante Vollstreckungsmaßnahmen unbillig wären, und damit der gesetzlichen Vorschrift des § 333 AO gerecht werden, nach der die Zwangsvollstreckung unterbleiben soll, wenn sie im Einzelfall unbillig ist (s. Becker/Riewald/Koch, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 9. Aufl., Bd. IV, Anm. 2 (5) zu § 333 AO). Diese Vorschrift gibt auf der anderen Seite dem Vollstreckungsschuldner in diesem Vorstadium der Zwangsvollstreckung das Recht, das FA auf Gründe der Unbilligkeit hinzuweisen und sich auf § 333 AO zu berufen, zumal ihm solche Gründe in der Regel eher und besser als dem FA bekannt sein dürften. Der Wortlaut des § 333 AO steht einer solchen Auslegung nicht entgegen. Unter "Einstellung" der Zwangsvollstreckung kann auch eine Abstandnahme von Vollstreckungsmaßnahmen von vornherein verstanden werden. Wenn § 333 AO vorsieht, daß u. a. eine Vollstreckungsmaßnahme aufgehoben werden kann, so geht er offenbar davon aus, daß eine solche nicht immer schon vorliegen muß. Auch für den gleichgelagerten Fall des § 707 ZPO wird angenommen, daß die Vollstreckung nicht bereits begonnen haben muß (vgl. Baumbach/Lauterbach,Zivilprozeßordnung, 34. Aufl., § 707 Anm. 2 b).
Lehnt das FA den Antrag, eine Maßnahme nach § 333 AO zu ergreifen, ab, so liegt darin eine mit der Beschwerde angreifbare Verfügung i. S. des § 230 AO. Das FG hat daher die Klage im Ergebnis zutreffend für statthaft angesehen.
Wie die Anordnung nach § 333 AO stellt auch die Versagung einer solchen eine in das Ermessen der Behörde gestellte Entscheidung dar, die vom FG lediglich daraufhin nachzuprüfen ist, ob das FA nicht aus den vom Kläger vorgebrachten Gründen die Grenzen seines Ermessens überschritten hatte (§ 102 FGO). Es hat das deshalb verneint, weil die Einlegung von Rechtsbehelfen die Vollziehung des angegriffenen Verwaltungsaktes gemäß § 242 AO und § 69 FGO grundsätzlich nicht ausschließe und dies um so mehr für bereits bestandskräftige Steuerbescheide gelten müsse, zumal wenn außerdem ein Erlaß der Steuer bestandskräftig abgelehnt und auch die Stundungsvoraussetzungen vom Gericht erster Instanz verneint worden seien. Diese Art der Prüfung des Ermessens ist nicht zu beanstanden. Insbesondere verstößt die Verfügung nicht gegen die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, da gerade für Abgaben § 242 AO und § 69 FGO eine gesetzliche Ausnahme von der grundsätzlich aufschiebenden Wirkung von Rechtsbehelfen (vgl. § 80 Abs. 1 und die Ausnahme in Abs. 2 Nr. 1 VwGO) enthalten. Der Betroffene ist ausreichend durch die Möglichkeit geschützt, seinen Anspruch auf Erstattung nach § 152 AO zu verfolgen oder gegen einzelne Vollstreckungsmaßnahmen Beschwerde einzulegen und die Unbilligkeit der Zwangsvollstreckung gemäß § 333 AO geltend zu machen. Im übrigen ist er sogar für den Fall, daß er eine bereits gewährte Stundung geltend macht, nach § 327 Abs. 2 AO verpflichtet, vorläufig zu leisten.
Der Einwand des Klägers, die Einleitung von Beitreibungsmaßnahmen schaffe vollendete, nicht mehr wieder gutzumachende Tatsachen, geht fehl. Abgesehen davon, daß im Streitfall noch keine Vollstreckungsmaßnahmen getroffen wurden, kann die Einleitung von Beitreibungsmaßnahmen für sich nicht vollendete, nicht mehr reparierbare Tatsachen schaffen. In der Regel treten solche erst bei einer Verwertung einer gepfändeten Sache ein, wobei der Vollstreckungsschuldner noch für den Fall, daß eine alsbaldige Verwertung unbillig wäre, die zeitweilige Aussetzung der Verwertung nach § 351 a AO erwirken kann.
Hinsichtlich der zu erwartenden Erstattungsansprüche hat das FG es dahingestellt sein lassen, ob das erst nach dem Erlaß der Beschwerdeentscheidung gebrachte Vorbringen zu berücksichtigen ist, weil auch bei der Höhe der noch verbleibenden Steuerrückstände von rd. 10 000 DM das Ermessen nicht in anderer Weise hätte ausgeübt werden können. Es bestehen Bedenken, ob das FG in dieser Weise selbst z. T. eine Ermessensentscheidung treffen durfte. Im Ergebnis ist ihm jedoch zuzustimmen. Für die Nachprüfung einer Ermessensentscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, hier also der Beschwerdeentscheidung der OFD, maßgebend (s. BFH-Urteile vom 26. Juli 1972 I R 158/71, BFHE 106, 489, BStBl II 1972, 919, und vom 18. November 1975 VII R 85/74, BFHE 117, 430, BStBl II 1976, 257). In eine nähere Prüfung, ob die vom Kläger angegebenen Erstattungsansprüche in Betracht hätten gezogen werden müssen, hätte das FG daher nur dann eintreten müssen, wenn der Kläger Tatsachen dafür vorgetragen hätte, daß dem FA und der OFD bei ihrer Entscheidung solche geltend gemachten Ansprüche bekanntgewesen waren. Dem FA kann nicht zugemutet werden, vor der Einleitung von Beitreibungsmaßnahmen von Amts wegen Steuerveranlagungen durchzuführen, nur um festzustellen, ob der Vollstreckungsschuldner in anderen Veranlagungsabschnitten Erstattungen zu erwarten hat. Hierzu bedarf es entsprechender Hinweise und Anträge des Vollstreckungsschuldners spätestens im Beschwerdeverfahren. Der Kläger hat aber unstreitig erst im Klageverfahren diese angeblichen Ansprüche geltend gemacht.
Fundstellen
Haufe-Index 72151 |
BStBl II 1977, 104 |
BFHE 1977, 13 |